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Überfüllte Verwahranstalten

■ Ob Großbritannien, Italien oder Frankreich - überall steigen immer wieder Gefangene auf Knastdächer, um gegen ihre Haftbedingungen zu protestieren / Resozialisierungsgedanke meist eine Farce / Schwedens Gefängnisse setzen moderne Vorstellungen um / Öffentliche Diskussion neigt in letzter Zeit zur Verschärfung

Revolten gehören zum britischen Knastalltag: Seit September 1984 kam es in Großbritannien zu 19 größeren „Zwischenfällen“, der längste und spektakulärste fand im vergangenen April im Strangeways-Gefängnis von Manchester statt. Die Ursache liegt in den Haftbedingungen. Die Mehrzahl der 128 Knäste stammt aus viktorianischer Zeit: vierstöckige Flügel, innen mit langen Fluren und Scherheitszäunen. Nur in wenigen Zellen gibt es sanitäre Einrichtungen. Wegen Personalmangels müssen die Knackis häufig 23 Stunden am Tag in ihrer Zelle verbringen. Es gibt keine Beschäftigungsmöglichkeiten, Besuche werden nur einmal im Monat genehmigt. In den Knästen regieren laut 'The Independent‘ die Tabak- und Drogenbarone. Hauptproblem ist jedoch die chronische Überbelegung der Knäste. Obwohl eine Untersuchung im März festgestellt hat, daß die britische Kriminalitätsrate zu den niedrigsten in Westeuropa gehört, sitzen proportional mehr Menschen in Großbritannien ein als in jedem anderen westeuropäischen Land. Pro 100.000 Briten sitzen 97,4 Menschen im Knast. In Frankreich sind es 81,1 und in der BRD 84,9. Die Ursache dafür liegt bei den britischen Richtern, die gegen Kleinkriminelle, säumige Zahler etc. im Handumdrehen Gefängnisstrafen verhängen. Auf die Häftlingsrevolten im April, die sich von Strangeways auf weitere 21 Knäste ausgedehnt hatten, folgte zwar eine öffentliche Diskussion, doch bislang setzt die britische Justiz weiterhin auf den Ausbau der Gefängnisse zur Lösung des Problems.

Frankreich:

Mal kurz in U-Haft

Drangvolle Enge herrscht auch in Frankreichs Knästen. Auf 42.000 Haftplätze kommen mehr als 45.000 Häftlinge. Die Überbelegung betrifft vor allem die Untersuchungshaftanstalten. In Loos, wo im vergangenen April ein Häftlingsaufstand ausbrach, waren teilweise drei Männer auf zwölf Quadratmetern untergebracht. Ein Jahr lang müssen in manchen Fällen Gefangene in Untersuchungshaft sitzen, bis der überlastete Richter ihre Akte auch nur einsieht. Die „Wiedereingliederung“, die die französische Justiz offiziell anstrebt, wird von der Realität verhindert. 80 Prozent aller Gefängnisse sind Vorkriegsbauten - gemeint ist der Erste Weltkrieg. Im „La Sante“ in Paris steigen laut einem Wärter „die Ratten durch die Klos in die Zellen“. Die Haftbedingungen entsprechen dem Alter der Bauten: 85 Prozent der langen Strafen werden vollständig abgesessen, es gibt keine Haftentlassung zur Bewährung, und Freigänge werden nur selten genehmigt, obwohl das Stafgesetzbuch diese Möglichkeit vorsieht. Normalerweise muß ein Häftling die Hälfte beziehungsweise ein Wiederholungstäter zwei Drittel seiner Strafe abgesessen haben, ehe sein Antrag auf Strafnachlaß bearbeitet wird. Wieviele Fälle dann von der „Chancellerie“ zugelassen werden, hängt vom Innenministerium, das heißt von der innenpolitischen Lage ab.

Italiens mafiose Knäste

Die Zeiten, zu denen sich in den Gefängnissen von Palermo und Neapel die Knackis in achtgeschossigen Betten stapelten, und auf dem Gefängnishof Zelte aufgestellt wurden, sind vorbei. Die Einführung des Hausarrests bei minderen Delikten für U-Häftlinge oder bei Überschreiten der Höchstdauer der U -Haft hat die Gefängnisse seit 1986 erheblich geleert. Dazu kam Anfang dieses Jahres eine Amnestie, die Streichung nahezu aller Strafen bis zu vier Jahren. Zur Zeit besteht eine Belegung von 90 Prozent in Italiens Knästen. Wie in Italien nicht anders zu erwarten, gelten viele Knäste als derart fest in der Hand der Kriminellen - vor allem im Camorra- und Mafiabereich -, daß sich die Wärter nicht ins Innere trauen.

Anlaß zu schwunghaftem Handel bietet die Gepflogenheit, die Gefangenen von draußen aus mit Essen zu versorghen, so daß sie nicht auf den Gefängnisfraß angewiesen sind. Die häufige Verlegung der Gefangenen, eine Praxis zur Vermeidung von Fluchtversuchen, führt allerdings nicht nur zum Verlust der externen Verpflegung, sondern hat auch zur Folge, daß die Familienangehörigen häufig wochenlang nach dem Verbleib ihres gefangenen Verwandten fahnden.

Drogenabhängigkeit und Homosexualität haben zu einem rapiden Anstieg von Aids-Erkrankungen geführt. Um homosexuelle Begegnungen zu reduzieren, wurde gerade ein Dutzend Modellversuche in ausgewählten Knästen begonnen, in denen die Häftlinge in eigenen Begegnungszellen zu ihren Partner/innen dürfen.

Aids in Spanien

Aids gibt es auch in spanischen Knästen. Nach pessimistischen Schätzungen sind 90 Prozent aller Gefangenen seropositiv, offizielle Stellen sprechen von 40 Prozent, was mit dem hohen Anteil von Drogenabhängigen zusammenhängt, die in den spanischen Knästen landen. Um der Verbreitung von Aids zu begegnen, kam das Justizministerium vor zwei Jahren auf die kuriose Idee, Waschlauge an die Gefangenen zu verteilen, damit sie ihre Spritzen reinigen können.

Resozialisierungsprogramme, Berufsausbildung etc. sind in einem Land illusorisch, dessen Knäste restlos überbelegt sind (mehr als 25.000 Gefangene bei 20.000 Haftplätzen) und dessen Arbeitslosenrate von 18 Prozent die Arbeitsuche nach dem Gefängnis überflüssig machen.

Regelmäßige Häftlingsrevolten und gelegentliche Streiks der Knastbeamten werfen ein Licht auf einen Verwahr-Vollzug, der wenig Auswege offenläßt.

Modell Schweden

Im düsteren Bild des Strafvollzugs in Westeuropa bildet Schweden einen Gegenpol. Der Strafvollzug soll hier möglichst in Freiheit stattfinden. Wer zu weniger als zwei Jahren Haft verurteilt ist, kommt automatisch nach der Hälfte heraus, bei längeren Strafen entscheidet ein Strafvollzugsausschuß - zu 25 Prozent positiv. Die durchschnittliche Haftdauer beträgt 5,3 Monate, größtenteils „verbüßen“ die Gefangenen ihre Strafe draußen, wenn auch unter Aufsicht. In den kleinen Knästen (10 bis 40 Plätze) gibt es Therapieprogramme für Drogenabhängige in Zusammenarbeit mit externen Therapien.

Kondome werden kostenlos verteilt und die Gefangenen haben Anrecht auf unbewachten Besuch seitens der Partner/innen. Seit einigen Ausbrüchen, Mißbrauch von Beurlaubungen und Gefangenenstreiks werden allerdings im bürgerlich -konservativen Lager Stimmen laut, die eine Verschärfung des Strafvollzugs fordern.A. Bauer

(Madrid), G. Pettersson (Stockholm), W. Raith (Rom), A. Smoltczyk (Paris), R. Sotschek (Dublin).

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