Was macht Gorbi in Minneapolis?

Morgen besucht der sowjetische Präsident die Computer- und Rüstungsindustrie im Mittleren Westen der USA  ■  Aus Minneapolis M. Bäuerlein

Wenn Gorbatschow morgen für sechs Stunden Minnesota besucht, stellt sich für die meisten Nichtamerikaner, aber auch für viele Amerikaner, als erstes die Frage: Wo, um alles in der Welt, liegt eigentlich Minneapolis? Und was will der Sowjetpräsident dort?

Minneapolis, oder genauer gesagt: Minneapolis/St.Paul, ist eine der fünfzehn größten Städte der USA und liegt am Nordende des Mississippi, dort, wo der „Vater aller Flüsse“ gerade schiffbar wird. Es hat sich in den letzten Jahrzehnten von einer der Mais- und Holzmetropolen des Mittleres Westens zu einem Zentrum der Computer- und Waffenindustrie gemausert.

Der letztere Punkt liefert auch schon die Antwort auf die zweite Frage: Was will Gorbatschow hier? Er will - das ist ziemlich klar - Kontakte mit der Mitte Amerikas knüpfen, und zwar nicht wegen der vielgerühmten Herzenswärme des „Midwest“, sondern wegen der weitgehend ungenutzten Möglichkeiten vor allem im Exporthandel.

Minneapolis/St.Paul beherbergt Firmen wie den Luftfahrt und Waffengiganten Honeywell, den Supercomputer-Erfinder Cray Research und den Computerkonzern Control Data. Der letztere Konzern war sogar eine der wenigen Firmen, die nach der sowjetischen Invasion in Afghanistan ihre Lieferungen in die UdSSR aufrechterhielten. Seit 1976 hat Control Data Computer im Werte von über eine Milliarde Dollar in die Sowjetunion verkauft - mehr als jeder andere amerikanische Elektronikkonzern. „Diese Treue wird jetzt gewürdigt“, erklärte ein Mitglied des sowjetischen Teams, das den Gorbi -Besuch vorbereitet.

Mehr noch als an alten Freunden dürften die Sowjets an zukünftigen Möglichkeiten interessiert sein: zum Beispiel an einem neuen Joint-venture, die die Fluglinie „Northwest Airlines“ und Honeywell am Mittwoch ankündigten. Die beiden Firmen wollen amerikanische und sowjetische Satelliten zu einem Leitsystem für Flugzeuge vernetzen.

Neben den Computer- und Waffenriesen sitzen in Minneapolis Dutzende weiterer High-Tech-Firmen, die von hochspezialisierten medizinischen Geräten bis zur Computersoftware für Flugzeugleitsysteme alles herstellen, woran es in der Sowjetunion bitter fehlt. Viele dieser Firmen leisten über die Hälfte ihrer Arbeit für das amerikanische Pentagon, und dies hätte den Gorbi-Besuch beinahe verhindert: Minneapolis ist nämlich „aus Sicherheitsgründen“ für Sowjetbesucher off limits. Bei genauerer Betrachtung stellt sich allerdings heraus, daß sich das Verbot nur auf Sowjets mit langfristigem Aufenthalt in den USA bezieht; Gorbi und sein Team trifft es daher nicht.

Noch ein zweites dürfte Gorbatschow an Minnesota interessieren: die Stellung der Region als Kornkammer der USA. Die Vereinigten Staaten sind nach wie vor die Hauptquelle aller sowjetischen Getreideimporte, und die Riesenfarmen des Mittleren Westens stellen mit hohem Pestizid- und Düngeraufwand 80 Prozent allen amerikanischen Getreides her. Der größte Getreidehandelskonzern der USA, Cargill Inc., sitzt ebenfalls in Minneapolis, und sein Chef steht neben weiteren Landwirtschaftlern, Gentechnikern und Handelsexperten bereits auf der Gorbatschow-Gästeliste. Spekuliert wird, ob Gorbatschow nun weitere Exporte aus dem Mittleren Westen ankurbeln will: Sojabohnen zum Beispiel werden dringend gebraucht, um die sowjetische Fleischproduktion anzukurbeln.

Während Gorbatschow sich mit Computer- und Landwirtschaftsexperten trifft, fällt seiner Frau das Ressort „Zwischenmenschliches“ zu: Raissa hat angekündigt, sie wolle eine „richtige amerikanische Familie“ besuchen. Die Ehre trifft die sechsköpfige Familie Watson, deren 13köpfige Tochter Lisa letztes Jahr mit einem Jugendtheater in Moskau gastierte.

Seit der Gouverneur vor vier Wochen den Gorbatschow-Besuch ankündigte, stellt sich den meisten Minnesotanern nur eine Frage: wie den Besucher zu Gesicht bekommen? Täglich gehen im Gouverneursbüro Tausende von Anfragen ein, von einem Einsiedler im Norden, der den Kremlchef zum Angeln einladen will, bis zu einer Gruppe von Schulkindern, die ihr eigenes Video zusammengestellt hat. Doch mit Ausnahme der Watsons, einigen Politikern und Wirtschaftsleuten werden wohl die wenigsten den Gast leibhaftig zu Gesicht bekommen. Trotzdem werden am Sonntag etwa eine Million Menschen - der Staat hat vier Millionen Einwohner - in den Straßen der Stadt erwartet.

Bei aller Euphorie gibt es aber auch einige Stimmen des Widerspruchs gegen „Gorbimania“. Ein Verband von Arbeits und Obdachlosen, alleinstehenden Frauen, die von Sozialhilfe leben, sowie „Minderheiten“ hat eine Protestaktion angekündigt, um „Gorbatschow zu zeigen, wie es im Kapitalismus wirklich aussieht“. Ob eine solche Demonstration im Glanz des Gorbi-Besuchs einen bleibenden Eindruck hinterlassen wird, bleibt offen.