piwik no script img

Rot-Grün für den Ausstieg

„Koaltionsvereinbarung Ausstieg aus der Atomenergie“, beschlossen durch die Verhandlungskommissionen der niedersächsischen Grünen und der SPD am 1.6.1990  ■ D O K UM E N T A T I O N

1. Ziele

Die Koalitionspartner teilen die gemeinsame Auffassung, daß die Nutzung der Atomenergie zur Energieversorgung sich spätestens nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl mit seinen katastrophalen Folgen als unverantwortbares Risiko erwiesen hat. Zudem ist bis heute die Frage der Bearbeitung und Lagerung des entstehenden Atommülls ungelöst. Das bisher verfolgte Entsorgungskonzept hat sich als untauglich erwiesen. Die Koalitionspartner werden das politische Mandat nutzen und im Rahmen des geltenden Rechts alle Möglichkeiten ausschöpfen, um den Ausstieg aus der Atomwirtschaft in Niedersachsen zu erreichen. 2. Atomkraftwerke

Die Koalitionspartner stimmen überein, daß insbesondere gegen das AKW Stade starke Sicherheitsbedenken bestehen. Sie werden das AKW Stade unter Hinzuziehung der vorhandenen Gutachten zur Sicherheit von Stade einer erneuten Überprüfung durch unabhängige Sachverständige unterziehen sowie ergänzende Überprüfungen vornehmen. Sofern die Sicherheitsbedenken nicht ausräumbar sind, werden sie den Rahmen des geltenden Rechts ausschöpfen, um eine Stillegung des Reaktors durchzusetzen. Die Sicherheitsfragen präjudizierende Stellungnahmen im Rahmen der Aufsichtspflicht sind zu vermeiden.1

Sie werden ihre strenge Auffassung über die Sicherheitserfordernisse auch auf die anderen AKWs in Niedersachsen ausdehnen. 3. Endlager Gorleben

Für beide Koalitionspartner haben die bisherigen Erkundungsergebnisse am Standort des geplanten Endlagers Gorleben dessen magelnde Eignungshaftigkeit hinreichend belegt. Sie lehnen daher ein Endlager für radioaktive Abfälle am Standort Gorleben ab. Im Rahmen des geltenden Rechts werden sie alle Möglichkeiten auschöpfen, um die Baumaßnahmen zu beenden. 4. Pilotkonditionierungsanlage

Gorleben

Beide Koalitionsparner vertreten die Auffassung, daß über die Notwendigkeit einer derartigen Anlage erst nach Beschlußfassung über ein neues Entsorgungskonzept entschieden werden kann. Standort einer solchen Anlage kann

-wenn überhaupt notwendig - nur der Standort eines zukünftigen Endlagers sein.

Die im Bau befindliche PKA entspricht nach ihrer Auffassung nicht den notwendigen Sicherheitsstandarts. Insbesondere im Hinblick auf das Strahlenminimierungsgebot, die Störfall -Sicherheit und die Kontrollierbarkeit der Nicht-Verbreitung von Kernbrennstoffen gibt es erhebliche Bedenken.

Deshalb werden die Koalitionspartner alle rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen, die erste Teilerrichtungsgenehmigung zurückzunehmen oder zu widerrufen und weitere Genehmigungen nicht zu erteilen. 5. Transportbehälter-Lager

Gorleben

Die Koalitionspartner haben begründete Zweifel an der Sicherheit des TBL2 Gorleben. Wichtige Sicherheitsfragen, insbesondere die Auswirkungen von Unfällen auf die Umgebung und der Abtransport von defekten Castor-Behältern sind ungeklärt. Die Koalitionspartner wenden sich daher gegen die Inbetriebnahme dieses Lagers. Unbeschadet dieser Aussage stellen beide Koalitionspartner fest, daß der Landesregierung keine amtomrechtlichen Einwirkungsmöglichkeiten gegen das TBL Gorleben zur Verfügung stehen. 6. Faßlager Gorleben

Die Koalitionspartner stellen fest, daß die Landesregierung keine rechtlichen Einwirkungsmöglichkeiten gegen bestehende Genehmigungen des Faßlagers Gorleben hat. Die Koalitionspartner werden jedoch die bestehenden Genehmigungen und den Betrieb des Lagers durch unabhängige Wissenschaftler überprüfen lassen und insbesondere die Vorgänge im Zusammenhang mit dem Transnuklear-Skandal rückhaltlos aufklären. 7. Endlager Schacht Konrad

Die Koalitionspartner werden alle Möglichkeiten ausschöpfen, das Plan-Feststellungsverfahren für Schacht Konrad nicht weiter zu verfolgen. 8. Asse II

Nach Auffassung der Koalitionspartner stellt der Standort Asse II eine atomare Altlast dar. Es ist daher eine Gefahrenabschätzung vorzunehmen.

Die Koalitionsparner werden aus Sicherheitsgründen weder einem Ausbau der Asse II zu einem Endlagerstandort zustimmen noch - unbeschadet vorhandener Rechtsstandpunkte Genehmigungen für die versuchsweise Einlagerung hochaktiver Glaskokillen erteilen. 9. Atomtransporte

Genehmigungs- und Aufsichtsbehörden des Landes werden höchste Anforderungen an die Sicherheit von Atomtransporten stellen. Die Koalitionspartner verpflichten sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten zur umfassenden Bevölkerungsinformation über Risiken von Atomtransporten und deren Routen. 10. Entsorgungskonzept

Beide Koalitionspartner betrachten die Frage der atomaren Entsorgung derzeit als nicht gelöst.

Im Rahmen der Bund/Länder-Verhandlungen über neue Grundsätze zur Entsorgungsvorsorge wird folgende Position vertreten:

Die Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennelemente aus der Bundesrepublik im Ausland wird grundsätzlich abgelehnt, weil sie ein zusätzliches Gefahrenpotential bedeutet und dem Gebot der schadlosen Verwertung3 widerspricht. Von der Bundesregierung wird die Rücknahme entsprechender Verträge gefordert. Die Koalitionspartner bestehen auf der Festschreibung einer Entsorgungsvariante ohne den Weg der Wiederaufarbeitung. Sie drängen darauf, daß Entsorgungseinrichtungen erst dann bereitgestellt werden, wenn der Ausstieg aus der Atomenergienutzung festgeschrieben ist. 11. Katastrophenschutz

Die Katastrophenpläne für die Standorte von Atomanlagen für Atomtransporte werden nach Auswertung der Erfahrungen der Katastrophe von Tschernobyl überarbeitet und veröffentlicht. Dabei wird dem bestehenden Kollektiv-Risiko hohe Bedeutung beigemessen. 12. Atomanlagen in der DDR

Die Koalitionspartner teilen die Auffassung, daß die festgestellten Sicherheitsdefizite der Blöcke des AKW „Bruno Leuschner“ bei Greifswald und die Sicherheitsbedenken gegenüber den geplanten Kraftwerksblöcken bei Stendal sowie gegenüber dem Endlager Morsleben sehr ernst zu nehmen sind. Sie betonen, daß diese Risiken für die niedersächsische Bevölkerung nicht hinzunehmen sind. Sie halten deshalb die im Staatsvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR festgelegte faktische Freistellung von atomrechtlichen Vorschriften des Atomgesetzes für fünf bzw. zehn Jahre für politisch nicht verantwortbar. Die Koalitionspartner werden deshalb dem Staatsvertrag schon darum nicht zustimmen, wenn nicht in diesem Punkt die Geltung der atomrechtlichen Vorschriften, insbesondere die Anwendbarkeit des 17 Abs.5 ATG4 vereinbart wird.

Die Koalitionspartner halten die Einlagerung von Atommüll im Endlager Morsleben aus Sicherheitsgründen für unvertretbar. Sie werden alle rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen, um Einlagerungen aus Niedersachsen zu verhindern.

Anerkungen der taz-Redaktion:

1 Eine „präjudizierende Stellungnahme“ wäre etwa eine Aussage in der Koalitionsvereinbarung oder in einer künftigen Regierungserklärung, wonach das AKW Stade in jedem Fall aus politischen Gründen stillgelegt werden soll. Auch nach Einschätzung von den Grünen nahestehenden Juristen, erhöhen sich die Chancen des Bertreibers in einem Prozeß gegen die kommende Stillegungsverfügung erheblich, wenn er die Stillegung als politisch begründet darstellen kann.

2 Mit TBL oder Transportbehälter-Lager ist das Zwischenlager für hochradioaktive abgebrannte Brennelemente gemeint, in dem die Lagerung in Castor-Transportbehältern erfolgen soll.

3 Nach dem Atomgesetzt darf Atommüll nur endgelagert oder „schadlos wiederverwertet“ werden. Unter „schadloser Verwertung“ wird bisher immer die Wiederaufarbeitung verstanden. Der Text bestreitet also, daß die Wiederaufarbeitung im Ausland rechtmäßig ist.

4 Der genannte Absatz 5 des Paragraphen 17 des Atomgesetzes regelt den Widerruf von atomrechtlichen Genehmigungen. Nach der Bestimmung sind Genehmigungen von Kernanlagen zu widerrufen, wenn von diesen erhebliche Gefährdungen ausgehen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen