: Bulgaren rechnen mit einem knappen Ergebnis
Am Sonntag wird in Bulgarien in einem ersten Wahlgang eine Verfassungsgebende Versammlung gewählt / Die aus der Kommunistischen Partei hervorgegangenen Sozialisten und das Bündnis der Oppositionsparteien liegen in der Gunst der Wähler ungefähr gleich ■ Aus Sofia Gretel Ruschmann
Sheljo Shelew ist beliebt in Bulgarien. Autogramme verteilen, Hände schütteln und Blumen entgegennehmen gehören zu seinem Wahlkampfauftritten - nicht nur in Sofia. Der Vorsitzende der „Union der Demokratischen Kräfte“ Bulgariens (UDK) erfreut sich auch auf dem Land großer Beliebtheit. In Pleven, einer der größeren Städte Bulgariens, bejubelten ihn am Mittwoch zigtausend Demonstranten auf einem großen Platz gleich neben der Parteizentrale der Kommunisten, die sich jetzt in Sozialisten umbenannt haben. Soviel Rummel um seine Person ist der Philosoph und Historiker allerdings nicht gewohnt. Nur zögernd verteilt er sein Porträt als Wahlkampfwerbung.
So wie er haben die meisten Mitglieder der Opposition wenig Erfahrung in politischer Arbeit. Die 16 Organisationen, die sich in der UDK zusammengeschlossen haben, bestehen erst seit ein bis zwei Jahren, einige erst seit wenigen Monaten. Anders als in Polen, Ungarn oder der Tschechoslowakei gab es in Bulgarien bis vor kurzem keine organisierte Opposition. Erst nach der Palastrevolution im November letzten Jahres, die den alten Parteichef Todor Schiwkow zum Rücktritt zwang, entstand eine bedeutende Oppositionsbewegung.
Was sie seither, in nur sieben Monaten, geleistet hat, ist beachtenswert. Ohne finanzielle und andere Hilfe aus Westeuropa, ausgenommen einiger Spender von Auslandsbulgaren, hat sie es geschafft, einen Apparat aufzubauen, der im Wahlkampf mit den noch herrschenden Sozialisten bestehen kann.
Rund 30 Prozent der Stimmen wird sie laut Meinungsumfrage offizieller Insitute bekommen. Und 40 Prozent die Sozialisten. Es sieht jedoch eher nach einem Kopf-an-Kopf Rennen aus.
Breite Opposition
Die Stärke der Opposition in Bulgarien ist ihre Breite. Fast alle relevanten Kräfte der Opposition sind in der „Union der demokratischen Kräfte“ zusammengeschlossen. Neben verschiedenen Umweltschutzorganisationen sowie demokratischen und religiösen Komitees sind das Parteien, die nach 1945 von der Kommunistischen Partei zerschlagen und jetzt wieder gegründet wurden. So zum Beispiel die Radikal -Demokratische Partei, die Demokratische Partei und die Sozialdemokratische Partei. Zentrale Forderungen im Wahlprogramm der UDK sind Marktwirtschaft, Anti -Krisenprogramm, Landreform, parlamentarische Demokratie.
Auf den ersten Blick gibt es zwischen UDK und Sozialistischer Partei (BSP) keine wesentlichen Differenzen. Während jedoch die BSP schrittweise reformieren will, glaubt die Opposition, daß nur sofortige und radikale Maßnahmen das Land vor einer Wirtschaftskatastrophe retten können. Die kleinen Schritte der Sozialisten werden letztendlich im Sand verlaufen, so ihre Überzeugung. Noch keine einzige der Maßnahmen, die sie seit November angekündigt haben, sei bisher umgesetzt worden.
Die Opposition setzt auf Sieg und sieht darin die einzige Chance für Reformen. Eine Koalition mit der BSP lehnt sie ab. „Aber“, so ein Vertreter der Grünen Partei in der UDK, „die Wahlergebnisse diktieren das Verhalten.“ Die Sozialisten profitieren dagegen im Wahlkampf vor allem von der Angst der Menschen. Zunächst die Angst vor Rache der Opposition. Immerhin hat die BSP eine Million Mitglieder ( 11 Prozent der Gesamtbevölkerung). Geschickt hat die BSP in dieser Situation ein Gewaltverzichtsabkommen plaziert. Damit sollte sich jede Partei verpflichten, nach der Wahl keine Gewalt auszuüben. Da dieses Abkommen aber fordert, die Regierungsmitglieder in Zukunft nicht anzuklagen, verweigerte die UDK die Unterzeichnung.
Während die Opposition eine Koalition mit den Sozialisten kategorisch ablehnt und alles auf ihren Sieg setzt, will die BSP auf jeden Fall koalieren. Ein breiter nationaler Konsens sei notwendig, um die Probleme des Landes zu lösen - wie es scheint, ist diese Strategie ein kluger politischer Schachzug für die Wahlkampagne.
PKWs mit Fahnen und Plakaten der Opposition fahren hupend und lärmend durch die Stadt, sympathisierende Passanten bleiben stehen, machen das Siegeszeichen der Opposition und skandieren „C-D-C“, das Kürzel der Demokratischen Union. Und überall hängen die blauen Fahnen der UDK aus den Fenstern. „Sofia ist unser“, sagte mir eine UDK-Aktivistin. Daß aber auch die Sozialisten noch Massen organisieren können, zeigte sich am Donnerstag. Sie riefen, wie die UDK, ihre Anhänger zur letzten Kundgebung vor den Wahlen. Und beide, UDK und BSP, konnten jeweils um die 200.000 Menschen aktivieren, die sich auf unterschiedlichen Plätzen zur selben Zeit versammelten. Der Rest der Stadt war nahezu ausgestorben.
Die dritte Kraft in diesem Wahlkampf ist die Bauernpartei. Auch sie, die sich in den letzten Monaten von einer Massenorganisation der Kommunisten in eine selbständige Partei wandelte, will das Monopol der Kommunisten brechen. Auch ihre Wahlplattform ist der der anderen ähnlich. Präzise Vorstellungen hat sie in der Frage der Landreform entwickelt, einem der wichtigsten Probleme, denn Bulgarien ist traditionell ein Agrarland. Es produziert Obst und Gemüse in großen Mengen. Die kleinbäuerliche Struktur des Landes wurde in den letzten 45 Jahren jedoch völlig zerstört. Riesige Agrarkomplexe und Monokulturen vertrieben die Bauern aus ihren Dörfern und laugten den fruchtbaren Boden aus. Die Frage ist jetzt, soll das Land den früheren Besitzern zurückgegeben werden, wie es die UDK fordert, oder denen, die es bebauen, was die Position der BSP ist. Die Bauernpartei ist für gemischte Eigentumsformen. Zunächst ist sie für Landrückgabe, aus Gründen der Gerechtigkeit. Aber frühere Besitzer, die an ihrem Land kein Interesse mehr haben, sollen entschädigt, ihr Land den Bauern im Dorf gegeben werden, so Ivan Gluchkow, der Sprecher der Bauernpartei. Auf diese Weise wollen sie einer Bodenspekulation vorbeugen.
Von politischer Bedeutung sind neben den drei Hauptkräften eine türkische sowie zwei bulgarisch-nationalistische Parteien. Stimmenmäßig dürfte vor allem die türkische Partei unter Achmed Doganov eine gewisse Rolle spielen. Sie hat großen Einfluß in der eine Million starken türkischen Minderheit. Zwar wurden die schlimmsten Auswirkungen der Bulgarisierungskampagne rückgängig gemacht, so zum Beispiel die „Bulgarisierung“ der Namen, aber an umfassenden nationalen Minderheitenrechten, wie sie die Türken vor 1974 genossen, fehlt es noch immer. Mit Ausnahme der türkischen setzt sich jedoch keine der kandidierenden Parteien dafür deutlich ein. Die UDK lehnt ethnische Parteien aus Prinzip ab. Für sie ist die Partei Achmed Doganovs nationalistisch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen