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Ohne Atomenergie aus der Öko-Krise

Erste fundierte Analyse der DDR-Energiesituation wendet sich gegen Behauptung der Regierung, ohne Atomenergie sei die desolate Umweltsituation nicht in den Griff zu bekommen / Nullpunkt als „einmalige Chance“ / Umweltminister Steinberg stellt Weichen anders  ■  Von Gerd Rosenkranz

Berlin (taz) - Die DDR ist beim Umbau ihres Energiesystem nicht dazu verdonnert, zwischen Teufel und Beelzebub zu wählen. Der insbesondere von Umweltminister Karl-Hermann Steinberg (CDU) verbreiteten Auffassung, der verheerenden Braunkohlenutzung müsse mit dem forcierten Ausbau der Atomenergie begegnet werden, widerspricht die erste detaillierte Analyse der DDR-Energiewirtschaft, die gestern in Bonn vorgestellt wurde. Das Energiegutachten der Forschungsstelle für Umweltpolitik der Freien Universität in West-Berlin wurde im Auftrag der West-Grünen (in Zusammenarbeit mit den DDR-Grünen und Bürgerbewegungen) ausgearbeitet. Ergebnis der Studie: der sanfte Energiepfad ohne Atomenergie wäre nicht nur „risikoärmer, sondern auch technologisch zukunftsträchtiger und kostengünstiger“ als die von der DDR-Regierung bisher diskutierten Strategien.

Die FU-Autoren Martin Jänicke, Lutz Mez und Jürgen Pöschk setzen auf eine „Strategie der energetischen Effizienzsteigerung durch Modernisierung des Kraftwerksparks, forcierte Kraft-Wärme-Kopplung und effizienteren Endverbrauch durch technischen und strukturellen Wandel, ergänzt durch regenerative Energien“. Erstmals wird in der Studie die Energieverschwendung quantifiziert, die in der DDR gegenüber den westlichen Industrieländern tagtäglich stattfindet. Einige Zahlen: Beim Strom betragen die Netzverluste und der Eigenverbrauch der Kraftwerke in der BRD 9,3 Prozent, die DDR kommt auf 17,2 Prozent. Allein der Überhang beim internen Stromverbrauch der Uraltmeiler im Vergleich zum bundesdeutschen Kraftwerkspark liegt in der Größenordnung der gesamten Stromproduktion der DDR-Atomkraftwerke (Zahlen von 1988). Die bis zu 69 Jahre alten Großkraftwerke arbeiten mit Wirkungsgraden von teilweise um 20 Prozent. Das heißt: nur ein Fünftel der eingesetzten Energie kommt schließlich beim Verbraucher an. Gleichzeitig jagen die Braunkohlemeiler ungeheure Schadstoffmengen in die Luft: Das Kraftwerk Boxberg (3.520 Megawatt) allein soviel Schwefeldioxid wie die Schweiz und Finnland zusammen, Jänschwalde (3.000 Megawatt) soviel wie die Niederlande und Norwegen. In den Bezirken Halle und Leipzig leiden infolge der Emissionen die Hälfte aller Kinder an Atemwegserkrankungen - mit steigender Tendenz. Für die FU-Autoren liegt aber gerade im Ausmaß des Debakels eine „ungewöhnliche Chance“. Die DDR stehe nämlich „notgedrungen“ vor einem Modernisierungsprogramm, „das international einmalig ist und zudem mit massiver Unterstützung von außen rechnen kann“. Mit dem Umbau ergäben sich „Spielräume für energetische Effizienzsteigerungen, die - als Minimum - auf eine Angleichung an das Effizienzniveau der Bundesrepublik hinausläuft“.

Alle Prognosen, die weiter von einem Anstieg des Primärenergieverbrauchs in der DDR bis zum Jahr 2000 ausgingen, seien „unrealistisch“, weil das Land einen „erheblichen Modernitätsrückstand der Energieversorung“ aufholen werde, der auch im Westen in den siebziger und achtziger Jahren zu einer Stagnation des Verbrauchs geführt habe. In der DDR stehe die sogenannte „Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Energieverbrauch“ noch aus: Die Wirtschaftsleistung je Einwohner liegt heute um knapp ein Drittel niedriger als in der BRD, der Pro-Kopf -Primärenergieverbrauch dagegen um reichlich ein Fünftel darüber. So kommen die Autoren zu dem Resultat, daß der Primärenergieverbrauch in der DDR (bei konstantem Stromverbrauch) jährlich um zwei Prozent sinken wird. Unter dieser Annahme soll der Braunkohleeinsatz in Kraftwerken bis zum Jahr 2000 von derzeit 170 Millionen Tonnen auf 70 Millionen gesenkt werden. Die SO2-Emissionen sollen sich gleichzeitig mit dem Einbau moderner Rauchgasentgiftungsanlagen um 95 Prozent, die CO2-Emissionen um mindestens 35 Prozent und die Staubemissionen sogar um 98 Prozent reduzieren.

Für die Rekonstruktion, den Neu- beziehungsweise Ausbau von insgesamt 22.450 Megawatt-Kraftwerkskapazität errechneten Professor Jänicke und seine Mitarbeiter Investionskosten von 33,7 Milliarden Mark. Diese Zahl liegt weit niedriger als jene 50 Milliarden DM, die ebenfalls gestern der Ostberliner Umweltstaatssekretär Uwe Pautz für den Umbau des Energiesektors in der DDR gegenüber 'dpa‘ nannte. Pautz will den Atomstrom-Anteil - vor der Greifswald-Stillegung etwa zehn Prozent - deutlich erhöhen.

Die Autoren der Studie setzen für das jetzige DDR-Gebiet im Kern genau auf jene Energiestruktur, die sich in der Bundesrepublik aufgrund der festgefahrenen Monopolstellung der Energie- und Stromkonzerne bis heute nicht hat durchsetzen lassen. Dazu gehört auch die Gründung von dezentralen Stadtwerken. Die Überführung der volkseigenen Kraftwerke und Netze in kommunales Eigentum gehöre zu den vorrangigen Aufgaben der nächsten Zeit, erklärte der Bundestagsabgeordnete der Grünen Eckhard Stratmann in Bonn. Sollte sich die Monopolstruktur der Energieversorgungsunternehmen jedoch auch in der DDR durchsetzen, sei „die Chance für eine ökologische Energiepolitik“ auf dem Gebiet der DDR vertan. Die DDR -Regierung ist da genau auf dem „richtigen“ Weg. Umweltstaatssekretär Pautz versprach gestern die völlige Umstrukturierung des DDR-Leitungsnetzes und ein einheitliches Verbundnetz für das vereinigte Deutschland.

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