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„Um den Gewinn macht Euch keine Gedanken“

Belegschaften in Handel, Banken und Versicherungen organisieren Interessenvertretung / Gewerkschaften HBV und Handel, Nahrung und Genuß streben Vereinigung an / Hamburger HBV-Sekretär sagt den Ost-Kollegen, wo es lang geht  ■  Aus Görlitz Detlef Krell

Mitten in der Görlitzer Innenstadt, gleich beim Centrum -Warenhaus, hat die Großhandelsgesellschaft Schuhe und Lederwaren ihr Domizil. Allein mit diesem Standort, das wissen die 85 KollegInnen, ist ein Stück ihrer Zukunft entschieden. Hier könnte alles erdenkliche stattfinden, nur kein Schuhgroßhandel. Doch mehr als das wissen sie bisher nicht. Mit wem wird ihr, inzwischen in Sachsenschuh -Großhandel umbenannter Betrieb in die Wirtschaftsunion gehen? Wieviel Arbeitsplätze bleiben? Welche Umschulung wäre sinnvoll? Betriebsteilleiter Kämpfe, heißt es, weiß bisher auch keine Antowrt. Aus dem Hauptwerk Radebeul hörten sie etwas von „Ladenkette“.

Auf der kürzlich von der Betriebsgewerkschaftsleitung einberufenen Belegschaftsversammlung hätten einige KollegInnen gern noch etwas von der DDR-Illusion des Mitplanens, Mitarbeitens, Mitregierens hinübergerettet. Man müsse sich um die Effektivität kümmern, um hohen Gewinn, um den Betrieb zu stärken. Der Hamburger HBV-Sekretär Lutz Eilrich zeigte Verständnis für diese Sorge, mußte ihnen dennoch den Zahn ziehen. „Der Versorgungsauftrag ist erloschen. Ihr braucht euch um den Gewinn keine Gedanken zu machen. Darauf habt Ihr sowieso keinen Einfluß. Eure Sache ist es, die Rechte der ArbeitnehmerInnen zu sichern.“

Lutz Eilrich nannte einige Eckpunkte dieser Interessenvertretung. Die Belegschaft hat ein Recht darauf, von der Betriebsleitung Auskunft über Strukturveränderungen, Vertragsgebaren zu erhalten. „Und wenn die Direktoren diese Verantwortung nicht erfüllen, dann müssen sie weg“, forderte er unter Beifall der KollegInnen. Bevor entlassen wird, ist zu prüfen, wie Arbeitsplätze erhalten und KollegInnen qualifiziert und umgesetzt werden können. Gefordert ist ein Rationalisierungsschutzabkommen zwischen Gewerkschaft und Unternehmerverband. Darin sei auch zu regeln, nach welcher Formel eine Abfindung für den Verlust des Arbeitsplatzes zu zahlen ist. „Es kann nicht sein“, meinte der Gewerkschafter, „daß Sie sich 40 Jahre lang für den Schuhgroßhandel den Buckel krumm gearbeitet haben, und dann heißt es: Dankeschön, das war's!“ Im Hinblick auf Tarifverträge warnte er vor gelernter DDR-Bescheidenheit. Tarife werden unabhängig von der wirtschaftlichen Lage der Unternehmen ausgehandelt, „gingen wir danach, wie es im Betrieb aussieht, gäbe es morgen Lohnkürzungen.“

Die Belegschaft des Radebeuler Hauptbetriebes ist den Görlitzer KollegInnen einen entscheidenden Schritt voraus. Sie hat bereits im Januar einen Betriebsrat gewählt, nachdem im Herbst ein Arbeiterrat an die Stelle der handlungsunfähigen BGL getreten war. Der Betriebsrat forderte inzwischen Direktor und Fachdirektion auf, die Vertrauensfrage zu stellen. Bis auf einen Fachdirektor bekamen die Leiter das Vertrauen bestätigt. Eine Vereinbarung setzt den Direktor außerstande, allein Verträge abzuschließen. So konnte Betriebsrats-Sprecher Gerd Sobtzyk den Görlitzer KollegInnen versichern, „daß noch nichts verkauft ist. Verhandlungen sollen jetzt anlaufen.“ Deshalb drängte er darauf, schnellstens auch in Görlitz einen Betriebsrat zu wählen, der gemeinsam mit den Radebeulern bei den Verhandlungen auftritt.

Eine Abspaltung des Görlitzer Betriebsteiles als eigene GmbH, daran ließen weder Eilrich noch Sobtzyk einen Zweifel, käme dem Gnadenschuß gleich. Schlimm genug, daß im Staatsvertrag vom Paragraphen 613a des Bürgerlichen Gesetzbuches keine Rede ist. Er regelt, daß bei Übergang eines Betriebes oder Betriebsteils durch Rechtsgeschäft auf einen anderen Inhaber dieser in die Rechte und Pflichten aus den im Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsverhältnisses eintritt. Also auch in die geltenden Tarifverträge.

Noch vor der Wirtschaftsunion eine Verzahnung der Industriegewerkschaften herbeizuführen und das „soziale Haus auf beiden Seiten zu sichern“, mit diesem Ziel hatte die IG Handel, Banken und Versicherungen (HBV) am 9. April ihr Beratungs- und Unterstützungsbüro, eines von acht in der DDR in Dresden eröffent. Am 23. und 24.Juni werden die Delegierten der IG Handel, Nahrung und Genuß (HNG) in Bernau über die Modalitäten beim gewerkschaftlichen Zusammenschluß befinden. Er soll nicht, so erklären es HBV und HNG, zu einer Kopie des bundesdeutschen Vorbildes verkümmern, sondern aus gleichberechtigten Partnern eine neue, starke Industriegewerkschaft hervorbringen.

Anton Kobel, der aus Stuttgart als HBV-Sekretär nach Dresden kam gegenüber der taz: „Joint-venture-Verhandlungen werden von einigen Leitern wie Staatsgeheimnisse behandelt. Obwohl die Gesetze Offenheit verlangen!“ So geschah es ihm bei einer Belegschaftsversammlung der Staatsbank Dresden mit dem Düsseldorfer HBV-Vorsitzenden Foullong, daß er vom Direktor, dem Hausherrn, die Tür gewiesen bekam. Immerhin ging es dort um die Liaison mit der Dresdner Bank.

Gern werden auch Belegschaften unter Zeitdruck zu Entscheidungen genötigt, was bei der allgemeinen Angst um den Arbeitsplatz ganz gut funktioniert. Die KollegInnen der Wohnungswirtschaft Großenhain sollten ohne Einsicht in Abschlußbilanz, Eröffnungsbilanz und Gesellschaftsvertrag über die Umwandlung in eine GmbH abstimmen. Auch politisch motivierte Entlassungen gehören bereits zum Repertoire mancher Neu-Unternehmer. Im Großhandelsbetrieb Waren täglicher Bedarf Riesa fand sich die Betriebsratsvorsitzende, aktiv im Neuen Forum, als erste auf der Straße wieder, mit einer fristgemäßen Kündigung „zur Erhöhung der Effektivität des Betriebes“. Für diesen Fall interessierten sich neben den Gewerkschaften HBV und HNG auch der DGB-Vorsitzende und Stadtrat der Partnerstadt Mannheim und der Betriebsrat des Kooperationspartners „Spar“. Die Betriebsratsvorsitzende arbeitet inzwischen wieder bei WTB Riesa.

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