: Armut vernichtet soziale Existenz
Rund 600.000 Menschen in der Bundesrepublik völlig wohnungslos / Evangelische Obdachlosenhilfe fordert menschenwürdigen Umgang ■ Von K.-P. Klingelschmitt
Frankfurt/M. (taz) - Knapp eine halbe Million Menschen mußte 1989 in öffentlichen „Schlichtunterkünften“, gewerblich betriebenen Billigpensionen, in gemeinnützigen Einrichtungen und Ersatzwohnangeboten in Heimen, Frauenhäusern, Asylen und anderen caritativen Einrichtungen untergebracht werden. Weitere 150.000 Personen lebten ohne jedes Obdach auf der Straße - „Tendenz steigend“, wie Pastor Hartwig Drude auf einer Pressekonferenz zum Abschluß der Jahrestagung der evangelischen Obdachlosenhilfe am Mittwoch im Frankfurter Karmeliterkloster berichtete.
Etwa 30 Prozent der „Neuauftritte“ (Drude) bei den Obdachlosen seien Ex-Bürger der DDR. Für den Vorstand der evangelischen Obdachlosenhilfe ist die eklatante Wohnungsnot insbesondere in den Metropolen der Republik die Hauptursache dafür, daß Menschen in ihrer sozialen Existenz vernichtet und in das Heer der Obdachlosen eingereiht werden. Und der Ausgrenzung aus der Gemeinschaft der Wohnungs- und Arbeitsbesitzenden folge die „soziale Verachtung“ auf dem Fuße, ergänzte Vorstandsmitglied Karl-Heinz Marciniak. Der Obdachlosen-Fachverband des Diakonischen Werkes hatte seine Jahrestagung deshalb unter das Motto: „Selbstanleitung zum menschenwürdigen Umgang mit den Armen“ gestellt. Noch immer sei die „erdrückende liebevolle Belagerung“ der Betroffenen auf der „Schiene der Barmherzigkeit“ die psychologische Fluchtburg der rund 2.000 MitarbeiterInnen der evangelischen Obdachlosenhilfe. Marciniak: „Der demokratische Rechtsstaat scheint noch keinen Eingang in die Fürsorge gefunden zu haben.“ Daher beschlossen die Delegierten auf ihrer Bundestagung die Ausarbeitung einer Verfassung, die die personellen und rechtlichen Zuständigkeiten in den Heimen regeln soll.
Doch Armenfürsorge alleine schaffe noch keine Wohnungen. Heime, so Drude, könnten nur befristet die eigene Wohnung ersetzen - „und auf Dauer entwürdigen sie und zerstören die Selbsthilfekräfte“. Da der Markt entsprechend seiner Systematik aber Risiken ausgrenze, und deshalb gerade Menschen mit unsicherem oder geringem Einkommen kaum Chancen hätten, eine Wohnung zu bekommen, müsse jetzt „sozialer Ausgleich“ geschaffen werden. Nur eine neue Generation sozialer Bauträger, die „klein, handlungsfähig und zielgruppennah“ agieren könne, sei in der Lage, das eklatante Wohnungsproblem lösen. Dazu bedürfe es allerdings der massiven Unterstützung durch staatliche Stellen. Von der Bundesregierung fordert die Obdachlosenhilfe deshalb neben der Anerkennung des Grundrechts auf Wohnen ein Programm zur Bekämpfung der Langzeitobdachlosigkeit und von der eigenen Dachorganisation die Einrichtung einer Fachstelle für Wohnraumfragen bei den Landeskirchen. Drude: „Die bisherige Lethargie der Kirchen gegenüber dieser elementaren menschlichen Not ist ein Skandal.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen