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Lob der Parzelle

■ Dritte Folge der Serie: Die Stadt, das Geld und die Demokratie - der Streit um den Potsdamer Platz

Dieter Hoffmann-Axthelm

Der bekannte Städtebaukritiker und Stadthistoriker Dieter Hoffmann-Axthelm behandelt in einer Serie die grundsätzlichen Fragen, die im Streit um die Bebauung des Potsdamer Platzes jetzt entschieden werden sollen. Zugleich versucht er, Regeln zu entwickeln, nach denen das geteilte Berlin wieder zusammengefügt werden kann. Der erste Teil (taz vom 9.6.) war eine Polemik gegen die von der AL gewünschte Grünschneise. Der zweite Teil (14.6.) erörterte die baupolitischen Aporien der Sozialdemokratie und den Daimler-Komplex. Heute nun ein Plädoyer für den baupolitischen Rang der Parzelle. In der nächsten Folge am kommenden Donnerstag wird die Fragwürdigkeit städtebaulicher Wettbewerbe analysiert.

An zentralen Stadtorten ist es immer dieselbe Frage: Wer hat das Recht, vorhandene Flächen in Anspruch zu nehmen? Die Streitigkeiten, wie sie bei einer staatlich finanzierten Stadterneuerung in Kreuzberg üblich sind, unterscheiden sich von den Konflikten im Citybereich zwischen verschiedenen Nutzungen (zum Beispiel Wohnen und Tertiäres) nicht grundsätzlich. Sie bekommen nur eine unmittelbare ökonomische Schärfe. Das Instrumentarium der Verteilung in der herkömmlichen Stadt ist die Parzellierung des städtischen Bodens: seine Untergliederung in viele begrenzte Grundstücke. Es ist ein Marktmodell. Als solches ist es keine Lösung, aber die unabdingbare Voraussetzung für städtisches Leben.

Es soll ja Leute in der SPD gegeben haben, die bei dem Wort Parzelle zunächst an Kleingärten dachten. Man stelle sich diese Politiker vor: Von der AL sind sie allerlei gewohnt, Parks auf Citygelände, Biotopenschutz auf Fernbahnstrecken, Grüntangente statt Westtangente, aber Kleingärten am Potsdamer Platz, das, fragen sie verunsichert, kann doch nicht Teil des Koalitionskompromisses sein. Ich versichere hier also noch einmal: Es ist von innerstädtischen Grundstücken die Rede. Während das deutsche Wort Grundstück das Bleibende, Unbewegliche von Grund und Boden in den Vordergrund rückt, klingt im Fremdwort Parzelle umgekehrt das Technische der Planung an, die Herstellung von Grundstücken, die Verteilung, das Parzellieren. Es geht aber um beides: um die Eigenschaft der Parzelle, Dinge festzuhalten, die sonst von Krieg und Berliner Abrißwahn längst verwischt wären, und um das Zuteilen von Grund und Boden als politisches Modell einer offenen Situation. Das hat nichts Kleinkleines, nichts Idyllisches, es ist die ökonomische Nüchternheit selber. Ein nützliches Schema, das zur Stadt gehört und das man nicht ungestraft auf den Müll wirft.

Wenn man heute die Friedrichstraße entlanggeht, kann man den Unterschied unmittelbar spüren. Südlich der Linden, vor allem von der Ecke Behrenstraße bis zur Ecke Französische Straße, ist die Sache noch lebendig. Trotz der Abrisse und Baulücken ringsum lebt hier die Stadt aus der dichten Reihung unterschiedlicher Häuser mit unterschiedlichen Zwecken und unterschiedlichen Architekturen. Alle zwölf Meter fängt etwas anderes an, ist ein neuer Hauseingang fällig, verlassen oder betreten unterschiedliche Typen von Kundschaft die Gebäude, Politiker, normale Käufer, Verwaltungsangestellte. Von da an dominieren die riesigen, monolithischen Baublöcke, die von einer Straße zur anderen reichen: das sowjetische Handelszentrum, gegenüber ein Dekoplattenhorror des Späthoneckerismus, der noch nicht mal fertig ist, aber gleich drei Blöcke zementiert; dann Ähnliches aus der Nazizeit und nach 1950 Wiederaufgebautes, bis hinunter zur Leipziger Straße. Die Monofunktionalität und Langeweile ist schon in der Bauanlage angelegt und dringt unweigerlich aus dem Inneren der Gebäude auf die Straße.

Das ist nun aber genau die östliche Nachbarschaft vom Leipziger und Potsdamer Platz, verstärkt durch die alten großen Staatsbauten an der Leipziger Straße und die ebenso monofunktionalen Wohnanlagen an der Wilhelm- oder, immer noch, Otto-Grotewohl-Straße. Westlich des Potsdamer Platzes warnt gleich das nächste Beispiel. Für die Große Achse hatte Speer das ganze Viertel zwischen Mathäikirche und heutiger Stabi einreißen lassen - wundervolle spätklassizistische Bausubstanz in einem genau dazu passenden Parzellierungsmuster. Auf der Grundlage der von Speer geschaffenen tabula rasa hat man dann in den sechziger Jahren das Kulturforum gebaut. Angeblich das Spitzenprodukt gebauter Demokratie. In Wahrheit eine Versammlung autoritärer Bauten, die sich einen Dreck um den Stadtraum und den normalen Bewohner scheren und im übrigen nur mit dem Auto erreichbar sind. (Und mit dem BVG-Bus! d.S.) Außer diesen öffentlichen Kultursärgen gibt es nichts als Straßenbauchaos und einen mörderischen Straßenverkehr, wo Fußgänger, Rad- und Rollstuhlfahrer nichts verloren haben und auch gar nicht vorgesehen sind. Kein Wohnhaus, kein Gemüsegeschäft, kein Zeitungsladen, kein Kino, kein Restaurant, erst recht keine Andeutung produzierender Arbeit. In dieser Welt großer einsamer Kulturbauten gibt es zwischen Eingang und Straße nur Abstandsgrün und Parkplätze. Mehr ist bei dieser Planungstechnik nicht unterzubringen. Es würde Nähe, Nachbarschaft, also Vermittlungsprobleme, Überschneidungen, differenzierte Gebäude- und Hofformen voraussetzen, all das, was man damals nicht wollte. Mit der Planung, die man gewollt hat, bekommt man aber nur tote Stadt. Schon die Placierung eines Zeitungskiosks hätte alle Beteiligten überfordert.

Es bekommt der Stadt nicht, wenn nur einer über Grund und Boden verfügt, und sei es, wie in der DDR, der Staat selber. Zumindest soll es die Zähmung des Besitzes durch Marktmechanismen geben, durch die Konkurrenz vieler und die abgeleiteten Mitspracherechte der nichtbesitzenden Nutzer. Von der Abschaffung des Eigentums an Grund und Boden hat man sich einmal den Beginn paradiesischer Zustände erhofft. Nachdem wir aber neben dem DDR-Wohnungsbau auch die Neue Heimat und überhaupt den öffentlicher Gesellschaften kennengelernt haben, soll uns vor dem Ende des Kapitalismus keiner mehr damit kommen. Es bedeutete nämlich, ob DDR oder Bundesrepublik, nur die bedingungslose Herrschaft der Bauwirtschaft. Wenn es überhaupt noch lebenswerte Stadtbereiche gibt, dann verdanken wir das dem Umstand, daß es der städtebaulichen Moderne nicht ganz gelungen ist, die alte Stadt abzuschaffen.

Die Teilung des städtischen Bodens unter die Gründerfamilien ist der Anfang der mittelalterlichen Städte gewesen, also das Grundmodell einer ökonomischen und politischen Gewaltenteilung. Natürlich sind wir heute weiter. Aber nur so weit, daß wir es uns jetzt freiwillig aussuchen können: die Stadt Block für Block von der DeGeWo, BeWoGe, Gehag, GSW, Stadt und Land usw. usw., oder eben von der Deutschen Bank, Abteilung Mercedes, Unterabteilung Dienstleistungsbereich bauen zu lassen, oder eben von vielen solcher Potentaten. Mehr wird nicht versprochen, von sozialer Gerechtigkeit ist nicht die Rede. Die Verteilung unter vielen Investoren erhöht die Chancen auf eine wirkliche, widersprüchliche Stadt. Sie läßt Fall für Fall die Diskussion zu, durch die der jeweilige Investor von den Vorteilen überzeugt wird, nicht monofunktional, sondern in städtischer Mischung der Funktionen zu bauen.

Das Parzellierungsgeflecht ist ein Netz, das die Inhalte der Stadt trägt und in Beziehung setzt. Die einzelne Parzelle ist dabei die kleinste städtebauliche Einheit - die Häuser, Gebäudeformen, Höfe usw. sind konkrete architektonische Inneneinrichtung der Stadt. Die Grundeinheiten können größer oder kleiner, sogar sehr groß und sehr klein sein. Entscheidend ist, wie in der Biologie, daß es diese Behälter überhaupt gibt, mit ihren Grenzen zwischen innen und außen, ihren Durchlässen und Innen- und Außenwirkungen. Von der Ausdehnung und Differenziertheit des Netzes hängt die Belastbarkeit einer Stadt ab.

Verdichtung, funktionale Mischung, ökologischer Ausgleich, kleinräumige soziale Selbstorganisation, typologische Durchgliederung - dieses ganze ABC der Stadtökologie ist zur Zeit nur in der Parzellenstadt durchführbar und und überprüfbar. Das gilt unabhängig davon, wie alt die Parzellen sind. Neue Stadtbereiche wird man sicher nicht in pseudohistorischen Parzellenformen bauen wollen. Aber auch nicht in Großanlagen: Vielmehr muß das Vergrößern noch weiter getrieben werden, so weit, daß wieder für begrenzte Untereinheiten Platz ist, die wirklich Organisationseinheiten sind und keine bloße Fiktion wie beim riesigen Hertie aus lütten Fachwerkhäusern. Am Leipziger und Potsdamer Platz befinden wir uns aber mitten in der Parzelle: die der historischen Erinnerung.

Die Geschehnisse werden nicht als allgemeine historische Tatsachen aufbewahrt, sondern als Taten, die von bestimmten Personen zu einer gegebenen Zeit an einem genau angegebenen Ort getan worden sind. So gehört zum Wiederaufbau der beiden Plätze die historische Nachfrage, die allein im heutigen Gelände Orientierung bringt: Wo war die Neue Reichskanzlei, wo ist der Führerbunker-Rest? Wo stand die Kaufhauskathedrale Wertheim? Wo war das Vox-Haus, der erste deutsche Rundfunksender, wo das Cafe Josty? Wo lag das Wilhelm-Gymnasium, in dem der Volksgerichtshof Unrecht sprach? Wo waren Columbiahaus, Potsdamer Bahnhof, Hotel Fürstenhof? Alle reden vom Haus Vaterland, wenige von Freisler, keiner vom kleinen Friedhof der Dreifaltigkeitskirche direkt vor dem Potsdamer Bahnhof, um den bis in die dreißiger Jahre hinein (die energischen Nazis schafften ihn weg) eilige Reisende einen Bogen machen mußten, bevor sie das rettende Portal erreichten.

Dabei kann es weder um Heimweh noch um Rekonstruktionsgelüste gehen. Diese zwanziger Jahre waren die berühmtesten Jahre des Platzes, aber wohl kaum seine besten. Die Citywanderung nach Westen hatte längst eingesetzt. Statt der großen Geschäfte blühten hier die vielen kleinen: Bahnhofsmilieu, Massenabfertigung in Riesenlokalen, das Abfüttern von Provinzlern mit Großstadtklamauk im Haus Vaterland, protzige Großhotels; Mieten, die das Cafe Josty zur Aufgabe zwangen. Abriß und Bauspekulation. Und: rund um die erste, 1929 aufgestellte Ampel ein mörderischer Verkehr. Es war die Zeit, die das alte städtische Ordnungsschema sprengte und, unter dem Titel City, von innen her die Zerstörung vorbereitete.

Die Rekonstruktion der City am Ort scheint ja fast nationaler Konsens zu sein. Zu Unrecht. City, das ist, als monofunktionale Standortangabe, bereits fast das Todesurteil eines Stadtortes. Es reicht, daß das Geld herausgezogen wird, und der gesamte Glanz erlischt. Es muß anders formuliert werden: auch City-Funktionen sind erwünscht, unter anderen, aber in der richtigen Mischung. Das Parzellenthema meint ein Ordnungssystem, das zur Not selbst Citybildung aushält. Das vor allem ihre monofunktionale Ausprägung und Durchsetzung verhindern kann. Im Übrigen haben soziale Minderheiten in dem Parzellengeflecht mehr Lebenschancen als jede noch so bemühte sozialstaatliche Daseinsfürsorge sie garantieren kann. Es ist das einzige Raster für die Unterbringung jener Vielfalt, aus denen städtisches Leben erst entsteht.

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