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„Das Wort Arabisch hat einen neuen Klang“

Eine Grundschule in Paris führt zweisprachigen Unterricht für alle Kinder ein / Nach anfänglichem Mißtrauen findet das Experiment Zustimmung und wird weitergeführt  ■  Aus Paris Hubert Prolongeau

Ahlanbikum - Willkommen! Mit einer Handbewegung bittet die Lehrerin die Schüler herein. Die Kinder drängeln ins Klassenzimmer, man sieht braune und blaue Augen, blonde Haare und schwarze Zöpfe, und auch die Namen klingen, als komme die ganze Welt zusammen: Julien, Mohammed, David, Abdelkader... In einer Ecke steht ein Tablett mit Teetassen, auf dem Poster an der Wand sind Minarette und minbars, die islamischen Predigerkanzeln zu sehen.

Der Unterricht beginnt - und es wird kein Wort Französisch gesprochen. Die Kinder melden sich eifrig, viele können es kaum erwarten dranzukommen. Nacheinander marschieren sie zur Tafel, lesen die Arabesken vor, entschlüsseln die eleganten Linien der fremden Schrift, mit Mühe die einen, mit Leichtigkeit die anderen. Aus Zetteln mit einzelnen Worten fügen sie Sätze zusammen. Zwischendurch werden arabische Abzählreime gesungen, alle klatschen mit... In den hinteren Bänken schwatzen die Kinder miteinander auf Arabisch und Französisch - Alltag in einer ungewöhnlichen Schule, der französisch-arabischen Schule in der Rue de Tanger Nr.41 in Paris.

Das Schulgebäude steht mitten im 19. Arrondissement, am Ende einer etwas trostlosen Straße. Auf halbem Wege muß man an zwei scheußlichen Sozialbauten und einem riesigen Polizeigebäude vorbei. Seit vier Jahren wird in dieser staatlichen Grundschule zweisprachig unterrichtet, Französisch und Arabisch, und zwar wirklich zweisprachig nicht nur gemischte Klassen und zusätzlicher Sprachunterricht. Die Kinder lernen sechs Stunden in der Woche Hocharabisch, außerdem werden Unterrichtsstunden auf Arabisch gehalten.

„Wir geben nicht Sprachunterricht, sondern wir unterrichten in der Sprache“ erklärt Evelyne Couteleau, eine der französischen Lehrerinnen. Lesen, Grammatik und Rechnen stehen auf dem Stundenplan. Und an diesen Stunden nehmen alle Kinder teil. Das ist der Unterschied zum bisherigen System der gemischten Klassen, wo es häufig vorkam, daß die arabischen Kinder die Mathe- oder Französischstunde schwänzten, um statt dessen einen Kurs in „ihrer“ Sprache zu besuchen.

Es war nicht zuletzt das Scheitern des Systems der „integrierten Klassen“, das die Lehrer an dieser Schule bewogen hat, den Versuch mit einer neuen Form des Unterrichts zu wagen. „Wir wollten unsere Schwächen in Stärken verwandeln“, erklärt der bärtige Schuldirektor Gerard Besson, der ein wenig wie ein freundlicher Schäfer aus der Ardeche wirkt. „Es sollte endlich Schluß sein mit diesem Zwangszusammenhang von sozialen Problemen und Schulproblemen.“

Soziale Probleme gibt es allerdings genug in diesem Viertel. Die Arbeitslosenquote ist hoch; 80 Prozent der Schüler kommen aus Familien, deren Einkommen unterhalb der Steuergrenze liegt. Vier von fünf Schülern beantragen Beihilfen, wenn sie in die sechste Klasse kommen. „Im 16. Arrondissement hätte ich für die Sache sofort grünes Licht bekommen“, sagt Besson, „aber nicht hier im 19....“ Aber die Idee setzte sich durch, und eines schönen Tages rief Besson die Eltern zusammen und stellte ihnen sein Projekt einer zweisprachigen Schule vor. Fast alle waren dafür - bis Besson klarmachte, daß die zweite Sprache Arabisch sein sollte: nun lehnten 30 Prozent der Eltern ab. Inzwischen hat sich das Blatt gewendet: 1989 gab es 118 Anmeldungen für die erste Klasse, in der nur 75 Plätze zu vergeben sind. „Wir haben es geschafft, dem Wort Arabisch, mit dem viele nur abwertende Vorstellungen verbinden, einen anderen Klang zu geben, zu zeigen, daß dahinter eine Kultur, eine Zivilisation steht. Das ist schon ein großer Erfolg.“

Um dieses Ziel zu erreichen, hat die Schule direkte Unterstützung von den Ländern des Maghreb erbeten. Denn das Experiment war ohne Freiwillige nicht durchzuführen: Die Lehrerinnen mußten bereit sein, sich auf die Sache einzulassen, die Eltern mußten mitspielen, und außerdem brauchte man die „Lehrkräfte für Sprache und Kultur der Herkunftsländer“ - sieben Arabischlehrerinnen kamen, aus Algerien, Marokko, Tunesien und dem Libanon. Ihr Gehalt wird von den Regierungen dieser Länder bezahlt. Es gab nichts, was sie hätten mitbringen können, kein Lehrmaterial, keine Bücher. Sie kamen gewissermaßen nur mit einem Stück Tafelkreide. Aber sie haben sich alles erarbeitet, Schaubilder gezeichnet, Lieder ausgesucht, Unterrichtsmethoden erprobt.

In diesem Jahr ist eine dritte „1. Klasse“ eingerichtet worden, die Lehrerinnen ziehen Bilanz: positiv, auch wenn es bislang an Möglichkeiten fehlt, den Erfolg zu messen. „Die Kinder sind lebhafter“, meint Leila, eine der arabischen Lehrerinnen. „Sie gehen sicherer mit den Schriftzeichen um, gewöhnen sich an, die beiden Sprachen zu vergleichen und über sie nachzudenken.“ Auch die französischen Lehrerinnen stellen Fortschritte fest: „Der französische Unterricht leidet überhaupt nicht darunter“, erzählt Michele. „Die Kinder sind ganz bei der Sache, wie jede normale Klasse. Übrigens gibt es da einen Zusammenhang: die Besten im Arabischunterricht sind häufig auch in den anderen Fächern besonders gut.“

Ein weiterer Erfolg: für die Kinder existiert der Begriff „Rassismus“ in beiden Sprachen nicht. „Sie stellen fest, daß es Unterschiede gibt“, sagt Malika, eine der algerischen Lehrerinnen, „und diese Unterschiede erklären wir ihnen.“ So sind zum Beispiel am Ende des Fastenmonats Ramadan die kleinen Araber als Prinzen verkleidet in die Schule gekommen - ein wunderbarer Anlaß, zu erklären, was es mit diesem Fest auf sich hat. „Das ist auch für unsere Kleinen gut“, meint eine Mutter, die, in ihre Dschellaba gehüllt, vor der Schule auf ihren Sohn wartet. „Das bringt ihnen unsere Traditionen näher.“

„Die Beziehungen zwischen den Arabern und den Nicht-Arabern sind kein Problem“, meint Michele weiter,„schwieriger ist das Verhältnis von Jungen und Mädchen.“ Zum Ende des Schuljahres wird die Einführung in die fremden Kulturen in besonderen Arbeitskreisen abgeschlossen. In sechs großen Gruppen, gegliedert nach den geographischen Regionen Afrika, Südostasien, Maghreb, Mittelmeerraum, Antillen und Frankreich, werden die neuen Entdeckungen präsentiert: Es gibt Ausstellungen, eine Lesung mit anschließender Diskussion (möglichst mit dem Autor) - und danach ein kleines Fest. Bei dem Fest der Arbeitsgruppe Afrika war sogar die Musikgruppe Toure Kunda dabei. Im kommenden Jahr wird es diese Veranstaltungen wieder geben, mit genauer umrissenen Themen - zum Beispiel die Situation der Frauen in Nordafrika.

Es ist die Frage, ob es bei diesem friedlichen Miteinander bleibt, wenn aus den Kindern Jugendliche werden. Das wird sich ab dem nächsten Jahr zeigen, wenn die erste Schar von zweisprachig geschulten Kindern in die sechste Klasse kommt. Gerard Besson versichert: „Unser Ziel ist es, die Sache weiterzuführen bis zum Schulabschluß.“ Aber man muß schon jetzt überlegen, wie es weitergehen soll. Wie kann man dafür sorgen, daß es auch künftig genug Lehrer gibt, die sich für das Projekt begeistern - schließlich hat man keinen Einfluß auf den Stellenplan. Soll es für diejenigen, die nicht mitmachen wollen, auch weiterhin eine nichtzweisprachige Klasse geben? Und wie bringt man den Staat dazu, in Zukunft die Gehälter der Arabischlehrerinnen zu übernehmen? Einige Probleme werden sich lösen, wenn die neue Schule fertig ist, die zur Zeit im Viertel gebaut wird. Dort können dann zehn zweisprachige Klassen unterrichtet werden, so daß das Gebäude in der Rue de Tanger frei wird für die anderen Klassen. Auch am neuen Ort soll es so sein, daß man statt „Hallo“ auch „Ma'a Salam“ sagen kann. Hubert Prolongea

Aus: 'Politis‘, Nr.105, Mai 1990

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