piwik no script img

DAS OPTISCHE MASSENMEDIUM

■ Kleine Kulturgeschichte der Stereoskopie

Die ersten theoretischen Überlegungen zum stereoskopischen Sehen stellte Leonardo da Vinci an. Nach anatomischen und optischen Studien ging Leonardo von der Tatsache aus, daß beide Augen geringfügig unterschiedliche Bilder sehen, wobei die Blickrichtungen zueinander konvergieren. Er stellte weiter fest, daß bei der Betrachtung eines Gegenstandes der Bereich unmittelbar hinter dem Objekt nicht gesehen werden kann, weil er verdeckt ist. Die dahinter vorbeilaufende Zone aber, so konnte Leonardo zeigen, ist wieder sichtbar. Es entsteht für uns Räumlichkeit.

Beinahe gleichzeitig zu den fotografisch ausgereiften Verfahren von Daguerre, Niepce und Talbot veröffentlichte 1838 der Engländer Charles Wheatstone seine Forschungsergebnisse über körperliches Sehen, in denen er die physiologischen Voraussetzungen der Stereoskopie durch die Vereinigung der beiden in einem bestimmten Winkel zueinander auf die Netzhaut projizierten Bilder im Gehirn nachwies. Wheatstone konstruierte dazu ein Betrachtungsgerät, mit dem er die optischen Strahlengänge von zwei gleichen Objekten über zwei Spiegel zu den Augen lenkte. Ein stereoskopisches Bild erschien.

Populär konnte die Stereoskopie jedoch erst durch die Verbreitung seiner für Interessenten außerhalb wissenschaftlicher Experimentierfreudigkeit brauchbaren Aufnahme- und Betrachtungsgeräte werden. Die Erfindung Wheatstones wurde industriell vermarktet. David Brewster entwickelte beispielsweise einen Apparat in der Art der Daguerrschen Kamera aus zwei ineinandergesteckten, innenseitig offenen Kästen. Die Doppelobjektivkamera war außen mit zwei nebeneinanderliegenden Objektiven, innen mit einer Mattscheibe versehen. Zugleich konstruierte Brewster ein billiges und leicht tragbares Betrachtungsgerät, das Stereoskop, das aus einem Holzkasten mit zwei geschliffenen Linsen gefertigt war, dessen wesentliche Verbesserungen gegenüber Wheatstones Instrument darin bestanden, daß man direkt und ohne störenden Lichteinfall auf das Bild blicken konnte und die kleinformatigen Aufnahmen durch Linsen vergrößert wurden.

Ab der Mitte des vergangenen Jahrhunderts entwickelten sich die Geräte und dreidimensionalen Bilder zum optischen Massenmedium, waren sie doch kostengünstig herstellbar und beim bürgerlichen Publikum deshalb so beliebt, weil sich mit ihnen eine fremde, exotische Welt in 3-D erleben ließ, die hautnah und direkt, aber ebenso distanziert und kontrollierbar war und der man trotz ihrer Dreidimensionalität nie ausgeliefert schien. Die Welt war materiell wie ästhetisch endgültig Objekt geworden. Mit Revolver- und Tischstereoskopen, Falt- und Kippgeräten überschwemmten findige Geschäftemacher den Markt, den sie zugleich mit Bilderserien kontrollierten. Reiseberichte und Naturkatastrophen, Kriegsbilder und pseudowissenschaftliche Aufnahmen waren die Renner. In Männerzirkeln und Sexclubs zirkulierten die sogenannten „Akademien“, dreidimensionale Akt- und Pornoaufnahmen. Zur überwiegend gewerblichen Nutzung der Stereoskopie verbreiteten sich um die Jahrhundertwende Stereo-Rundlaufgeräte, „Kaiserpanoramen“ genannt, die für den groß angelegten Vertrieb der Bilderzyklen auch das geeignete Betrachtungsgerät anboten. Es bestand aus einer mit einem Treibwerk ausgerüsteten Rotunde mit einem Durchmesser von vier Metern, an der 25 Personen gleichzeitig durch achromatische Linsenpaare hintereinander 50 von innen beleuchtete handkolorierte Glasstereos betrachten konnten. August Fuhrmann, der Erfinder des Kaiserpanoramas, der in Berlin seit 1880 einen stereoskopischen Bildverleih aufgebaut hatte, offerierte in seiner vierzigjährigen Geschäftszeit rund 1.100 Zyklen, was etwa 55.000 Motiven entspricht. Diese Zahl multipliziert mit der Auflagenhöhe der Zyklen, die ähnlich einem heutigen Filmverleih in angeschlossenen Spielstätten gezeigt wurden, ergab Hunderttausende von Glasstereos, die, hatten sie ihr Geld eingespielt, zum Verkauf angeboten wurden. Die entweder freischaffenden oder mit den Verlagen im festen Vertrag stehenden Fotografen waren überwiegend Profis, deren Geschäftsbereich sich der Verbreitung der industriell gefertigten Trockenplatten, Filme und handlicheren Kameras enorm erweiterte.

Mit der Entwicklung des Films und der Verbreitung der akustischen Kommunikationsmittel begann für die Stereoskopie der Niedergang. Die Aufnahmegeräte wurden nicht mehr produziert, Stereoskope kamen aus der Mode, weil sich auf dem Markt zudem immer mehr das Dia durchsetzte. Spielarten wie die „View-Master-Serien“, die auf runden Scheiben mit Bildpaaren Reise-, Action- und Tiergeschichten erzählten, waren nicht mehr als Kinderspielzeug. Der Raumillusion wurden die bewegten Bilder im Kino vorgezogen. Heute sind stereoskopische Bilder - wenn nicht im Museum - nur mehr in billigen 3-D-Schuppen auf der Kirmes zu sehen, was ihre kulturelle Exotik ebenso beweist wie ihr Gebrauch für die wissenschaftliche Kartographie oder für meteorologische Meßtechniken.

rola

Die Informationen stammen aus dem zur Ausstellung erschienen Katalog, hrsg. vom Museum für Verkehr und Technik. Er kostet 39 Westmark.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen