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Staatsvertrag und Arbeitsrecht

■ Der Rote Faden durch die importierte Sozialordnung beschäftigt sich im ersten Teil mit den Anlagen zum Staatsvertrag

Der Rote

Faden, Teil 1

Ulrich Mückenberger

Die Sozialunion bildet mit der Währungs- und Wirtschaftsunion eine Einheit. Sie wird insbesondere bestimmt durch eine der Sozialen Marktwirtschaft entsprechende Arbeitsrechtsordnung und ein auf den Prinzipien der Leistungsgerechtigkeit und des sozialen Ausgleichs beruhendes umfassendes System der sozialen Sicherung“ - so lautet Artikel 1 Absatz 4 des Staatsvertrages.

Eine Arbeitsrechtsordnung“ - das klingt zunächst so, als werde sich die DDR eine Sozialordnung schaffen, die den durch die Revolution von 1989 veränderten gesellschaftlichen Bedingungen entspricht. Aber der Staatsvertrag wird konkreter. „In der Deutschen Demokratischen Republik gelten Koalitionsfreiheit, Tarifautonomie, Arbeitskampfrecht, Betriebsverfassung, Unternehmensmitbestimmung und Kündigungsschutz entsprechend dem Recht der Bundesrepublik Deutschland; näheres ergibt sich aus dem Gemeinsamen Protokoll über die Leitsätze und den Anlagen II und III“ legt Artikel 17 fest. Und in den genannten Anlagen finden sich die einzelnen Gesetze der Bundesrepublik, die in der DDR zu übernehmen oder entsprechend auszuarbeiten sind.

In der DDR wird also eine neue Sozialordnung in Kraft treten (ich verwende den Begriff „Sozialordnung“ als Oberbegriff für „Arbeitsrechtsordnung“ und „System der sozialen Sicherung“). Aber es handelt sich weitgehend um eine importierte Sozialordnung. Wer sich je mit der Übernahme fremder Rechtsordnungen in einem Land beschäftigt hat, kennt die dabei auftauchenden Probleme:

1. Neue Begriffe tauchen auf, werden nicht präzise verstanden. Was zum Beispiel werden DDR-BürgerInnen mit dem Begriff der „sozialen Rechtfertigung“ im Kündigungsrecht oder mit dem der „Verhältnismäßigkeit“ im Arbeitskampfrecht anfangen können, wo ihnen beide Rechtsgebiete neu sind?

2. Neue Institutionen werden gebildet, mit denen umzugehen gelernt sein will. Wie wird ein Betriebsrat aufgebaut, wie und gegenüber wem wird er tätig? Oder: Wo und wie beantrage ich Sozialhilfe?

3. Eine neue „Kultur“ im Umgang mit Recht entsteht, die die Routine von gestern in Frage stellt. Für DDR-BürgerInnen zum Beispiel wird eine Sozialordnung neu sein, die auf individuellen - und manchmal auch kollektiven - „Rechten“ oder „Ansprüchen“ beruht und für die es ein formalisiertes Verfahren der „Rechtsdurchsetzung“ gibt.

Man kann über all dies trefflich streiten: über importierte Sozialordnungen im allgemeinen, über die derzeit in die DDR importierte westdeutsche Sozialordnung im besonderen. Man kann das Für und Wider abwägen oder überlegen, welche Chancen aber ist die Zeit längst hinweggegangen. Sobald die Währungsunion besteht, ist die importierte Sozialordnung in Kraft oder werden die entsprechenden Gesetze in Kraft gesetzt. Das Nachdenken über mögliche Alternativen dazu ist dann Geschichte - oder, wenn man will: Zukunft -, nicht mehr Gegenwart.

Mit dieser importierten Sozialordnung leben zu lernen, ist der Sinn dieser Artikelreihe. Wir fanden es sinnvoll, aus der Perspektive von in der Bundesrepublik arbeitenden Juristen und Juristinnen einige wichtige Gesetze und Rechtsgebiete zu erläutern, die jetzt in der DDR in Kraft treten. Der Sache nach geht es um zwei Gegenstandsbereiche:

1. Teilweise werden in der DDR direkt Gesetze übernommen, die in der Bundesrepublik gelten: etwa das Kündigungsschutzgesetz oder das Betriebsverfassungsgesetz. Hier werden wir uns bemühen, den Gehalt der Regelungen in knapper Form zugänglich zu machen, um auf diese Weise den praktischen Umgang mit ihnen zu erleichtern. Wir werden dabei auf Erfahrungen zurückgreifen, die mit diesen Gesetzen in der Bundesrepublik gemacht wurden - auch manche Schwierigkeit nicht verschweigen.

2. Teilweise werden in der DDR Gesetze verabschiedet, die in der Bundesrepublik geltende Gesetze in leicht modifizierter Form übernehmen: etwa das Arbeitsförderungs- oder das Sozialhilfegesetz. Hier werden wir uns auf die in der DDR verabschiedete Fassung beziehen, diese knapp kommentieren und praktisch zugänglich zu machen versuchen. Da auch hier bundesrepublikanische Gesetze Pate stehen, werden wir gleichfalls Erfahrungen aus der Bundesrepublik mitteilen.

In beiden Fällen werden wir uns nicht auf bloße „Gesetzestechnik“ beschränken. Wir wollen auch Hintergründe andeuten. Wir wollen Probleme andeuten, die in der Sozialordnung der Bundesrepublk bestehen und die mit dem Import in die DDR keineswegs gelöst, sondern eben nur exportiert werden.

Die Durchsicht des Staatsvertrages ergibt zahlreiche Anhaltspunkte für die Veränderung des DDR-Arbeits- und Sozialrechts entsprechend dem der Bundesrepublik.

1. Die Grundsätze der importierten Arbeitsrechtsordnung (Artikel 17) wurden bereits aufgeführt. Die von der DDR in Kraft zu setzenden Rechtsvorschriften der Bundesrepublik führt Anlage II auf. Neben Gesetzen in der jeweils geltenden Fassung zählen dazu auch Rechtsverordnungen in der jeweils geltenden Fassung (Anlage II unter I. 1. und 2.).

Aufgeführt sind in Anlage II unter IV. des Staatsvertrages:

-Die Gesetze, die die Mitbestimmung der Arbeitnehmer auf der Ebene des Unternehmens betreffen;

-das Betriebsverfassungsgesetz;

-das Tarifvertragsgesetz;

-das Kündigungsschutzgesetz.

Unter III. derselben Anlage zum Staatsvertrag werden weiter zahlreiche Gesetze zur Übernahme aufgeführt, die das Wirtschaftsrecht betreffen und die über die Formen von Kapitalgesellschaften natürlich auch die Sozialordnung beeinflussen. Hierzu gehören v.a.: das Handelsgesetzbuch, die Paragraphen 705 bis 740 des Bürgerlichen Gesetzbuches, das GmbH-, das Aktien- sowie das Genossenschaftsgesetz. Hinweise auf andere arbeitsrechtliche Neuregelungen finden sich an verschiedenen Stellen des Staatsvertrages. Das „Gemeinsame Protokoll über Leitsätze„ umreißt in A. III. Grundsätze der Koalititonsfreiheit. In B. IV. werden arbeitsrechtliche Regelungen aufgeführt, die

-Pendelarbeitnehmer,

-den Arbeits- und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer,

-die gesetzlichen Mindestkündigungsfristen und

-die fristlose Kündigung von Arbeitsverhältnissen betreffen.

Die Anlage IV. führt unter II. Nummern 2., 3. und 6. an arbeitsrechtlichen Materien auf:

-ein Schwerbehindertengesetz,

-ein Gesetz über Lohnfortzahlung im Krankheitsfall,

-die Einrichtung von Schiedsstellen für Arbeitsrecht (die auch schon in Artikel 6 Absatz 3 des Staatsvertrages selbst enthalten sind).

Anlage VI kündigt unter II Gesetzgebungsakte der DDR an, die dem Recht der Bundesrepublik auf folgenden Gebieten entsprechen sollen:

-dem Insolvenzrecht,

-dem Berufsbildungsrecht,

-dem Recht der Sprecherausschüsse für leitende Angestellte.

Anlage VII deutet - allerdings nur „zur Durchführung des Vertrages“ - Vorkehrungen des Datenschutzes an.

2. Zahlreich und teilweise sehr detailliert sind die Regelungen des Staatsvertrages, die in der DDR das Recht der sozialen Sicherung gestalten werden. Auch sie sind an verschiedenen Stellen zu finden.

Dazu gehören etwa die Artikel 18 bis 25 des Staatsvertrages, die die Grundsätze der sozialen Sicherung festlegen. In dem Gemeinsamen Protokoll über Leitsätze (unter B. IV. Nr. 2) findet sich eine sozialversicherungsrechtliche Regelung für Pendelarbeitnehmer.

Die Anlage IV führt unter II. wichtige Sozialrechtsvorhaben auf:

-ein Arbeitsförderungsgesetz,

-ein Sozialversicherungsgesetz,

-rentenrechtliche Regelungen,

-ein Sozialhilfegesetz.

Zwei vorläufige Erkenntnisse ergibt die Durchsicht derjenigen Passagen des Staatsvertrags, die die künftige Sozialordnung der DDR betreffen.

1. Das Bild ist wenig übersichtlich - selbst für juristisch Vorgebildete.

2. Und: Der Staatsvertrag verrät eine Handschrift, welche Vorschriften für mehr und welche für weniger wichtig gelten. Nach Vorschriften gegen Frauendiskriminierung im Erwerbsleben oder für den Persönlichkeits- und Datenschutz von Arbeitsnehmern sucht man im Staatsvertrag und seinen Anlagen ebenso vergeblich wie nach solchen, die die vom Betrieb ausgehenden ökologischen Gefahren betreffen. Wie sich im Verlauf unserer Artikel zeigen wird, soll aus den in der Bundesrepublik selbst umstrittenen Rechtsmaterien - etwa auf dem Gebiet der Koalitionsfreiheit und des Arbeitskampfrechts - meist die konservative Variante in die DDR importiert werden.

Der Stoff für die hier beginnende Artikelreihe ist also ungeheuer reichhaltig. Deshalb kann die Information nur bruchstückhaft sein. Dabei wird die Wahl zur Qual. Wir werden der Darstellung von solchen Regelungen Vorrang geben,

-die mit der Währungsunion unmittelbar in Kraft treten (wie Kündigungsrecht, Betriebsverfassungsgesetz und Vorschriften über die Wahl von Betriesräten) und

-die angesichts der dramatischen ökonomischen und sozialen Probleme, die den Menschen in der DDR infolge der Währungsunion bevorstehen, unmittelbaren Schutz bieten können (wie Arbeitsförderungsgesetz, Sozialhilfegesetz).

Der Autor ist Professor für Arbeitsrecht in Hamburg

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