: „Nationale Katastrophe als göttliche Prüfung“
■ Das Erdbeben im Iran hat mindestens 40.000 Menschenleben gekostet / Weitere Nachbeben bedrohen die Bevölkerung / Ganze Dörfer ausgelöscht / „Die Toten werden in Massengräbern beigesetzt“ / Auseinandersetzungen um Hilfslieferungen
Rudbar/Iran (wps) - Trauergesänge begleiten die Todesprozessionen. Die Straßen sind bedeckt mit Trümmern und zerbrochenem Glas. In Rudbar, einem der Zentren der Erdbebenkatastrophe, erzählen Überlebende von den grauenhaften Ereignissen am Donnerstag, als das Erdbeben die Stadt in Schutt und Asche legte.
Die Hälfte der 20.000 Einwohner gilt als tot oder vermißt. In Rudbar, einer Bergstadt am Ufer des Safid-Flusses, ragen drei Tage nach dem Beben immer noch Leichen aus den Ruinen, und die Toten werden ohne formelle Zählung in Massengräbern beigesetzt.
Verletzte Kinder, Männer und Frauen stolpern durch die Straßen Rudbars oder hocken verloren inmitten ihrer ehemaligen Behausungen, die jetzt nur mehr Lehm- und Müllhaufen sind. Totengräber mit weißen Schals gehen mit Schaufeln umher und begraben die Opfer unter kleinen Hügeln.
„Nach islamischer Tradition hat jeder Tote ein eigenes Grab“, erzählt der erschöpfte Totengräber Asghar Sharif. „Aber“, sagt er, „die Zahl der Toten ist so groß, daß sie zu dritt beigesetzt und durch kleine Holzwände voneinander getrennt werden.“
Am Rande einer Umgehungsstraße sitzt erschlafft eine alte Frau. „Mein Bruder ist tot“, klagt Zenab Zohori. „Seine Kinder sind tot. Alle sind tot. Mein Mann hat einen gebrochenen Rücken. Ich weiß nicht, wo sie ihn hingebracht haben.“ Hundert Meter weiter hockt eine achtköpfige Familie eng zusammengekauert und weint.
Nochmal hundert Meter weiter ertönt ein Aufschrei aus der Menge. Ein Suchteam hat die Leiche eines etwa 9jährigen Mädchens unter einem Haufen Lehmziegel gefunden. Dort, wo einst ein Haus stand, befreien Menschen den Körper des Mädchens sorgfältig von den Ziegeln. Sie tragen Tücher um ihr Gesicht, um den Gestank auszuhalten. Sie wickeln die Leiche in Decken und tragen sie weg. Leise werden islamische Gebete angestimmt.
Mindestens 40.000 Menschen kamen ums Leben, als das Erdbeben die nordwestlich von Teheran gelegenen Provinzen Gilan und Zanzan erschütterte, berichtet Radio Teheran. Doch ein Großteil des Gebiets ist von Trümmern bedeckt und für Katastrophenhelfer unerreichbar. So scheint es unmöglich, die wahre Zahl der Opfer festzustellen.
In Rudbar und umliegenden Dörfern wurden 90 Prozent der Gebäude zerstört. Mit einer Stärke von 7,3 bis 7,7 auf der Richter-Skala war es Irans schwerstes Erdbeben in diesem Jahrhundert, und das schwerste der Welt seit 1976, als rund 242.000 Menschen in China ums Leben kamen.
Die Zahl der Opfer wird wohl noch weiter steigen, wenn die Katastrophenhelfer in die Bergdörfer vordringen, die diese nahe dem Kaspischen Meer gelegene Stadt umgeben. UNO-Angaben zufolge gibt es mehr als 100.000 Verletzte. Das Internationale Rote Kreuz schätzt die Zahl der Obdachlosen auf 400.000.
Aus der Luft ist zu erkennen, daß große Teile Rudbars und anderer nahegelegener Städte völlig dem Boden gleichgemacht wurden. In der Provinz Silan sind offensichtlich vier Dörfer völlig zerstört worden. Die Behörden gehen davon aus, daß praktisch alle Bewohner unter den Schuttmassen begraben liegen.
Das Beben schlug Donnerstag früh - kurz nach Mitternacht zu, als die meisten Einwohner schliefen oder die Fußball-WM im Fernsehen verfolgten.
Die Zahl der Opfer ist besonders groß, weil im Nordwesten Irans die Häuser allgemein aus Lehmziegeln bestehen. Bei Beginn des Bebens zerfielen sie völlig und begruben ihre Bewohner unter sich.
Nachbeben mit einer Stärke von bis zu 4,0 Punkten auf der Richter-Skala, setzten sich in der Region fort. Mehr als 200 Nachbeben wurden registriert.
Iranische Helfer und das internationale Rote Kreuz haben den schwerstgetroffenen Städten wie Rudbar Zelte, Decken und Lebensmittel geliefert. Diese Städte liegen an Straßen, die durch Erdrutsche unpassierbar wurden, weil eingebrochene Tunnel den Weg versperren. Doch die Hilfsaktion hat noch nicht die Bergdörfer erreicht, welche nach Flüchtlingsaussagen am schlimmsten zerstört wurden.
Nach Angaben der UNO halten sich zur Zeit 210 Franzosen und 17 Engländer im Iran auf, die alle vor Ort im Einsatz sind. Allein in Rudbar sind in der Liga der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften Hilfszusagen in Höhe von rund vier Millionen Dollar eingegangen. Hilfsmittel wie Decken, Zelte und Medikamente in großem Umfang sind ebenfalls gespendet worden. Für die nächsten Tage sind insgesamt 18 Hilfsflüge in den Iran vorgesehen, die 124.000 Decken, fast 5.000 Zelte und Medikamente in das Katastrophengebiet bringen sollen.
Das schwere Erdbeben im Iran und die Hilfslieferungen sind auch zum Schlachtfeld politischer Auseinandersetzung geworden. Quellen, die sich auf das Katastrophenhilfswerk UNDRO berufen, berichteten, daß die politische Führung im Iran kein Interesse an der Mitarbeit ausländischer Hilfskräfte zeige. Der Führer der oppositionellen Volksmudjahedin, Massoud Radjavi, schrieb in einem Brief an UNO-Generalsekretär Perez de Cuellar, daß „die im Iran herschenden Mullahs Ärzteteams, Techniker und andere Mitarbeiter des Roten Kreuzes daran hindern, in den Iran einzureisen“.
Dagegen betonte die iranische Regierung, daß internationale Unterstützung - einschließlich Helfern vor Ort - von allen Ländern außer Israel und Südafrika angenommen werden. Berichte, wonach der Iran ausländischen Helfern nur auf 24 Stunden befristete Visa austelle, wurden vom Außenministerium zurückgewiesen. Selbst Hilfe aus den „Feindesstaaten“ Großbritannien und USA ist offensichtlich willkommen.
Der iranische Präsident Hashemi Rafsanjani erinnerte an die Leiden der Vergangenheit und trimmte ideologisch ein: „Unser Volk hat es gelernt, Schwierigkeiten zu überwinden und die nationale Katastrophe als göttliche Prüfung anzusehen. Wir haben uns in Gottes Hand begeben.“
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