: Dreggers Demagogie
■ Die polnische Westgrenze, die Vertriebenenverbände und das Unrecht
Es war klar, daß einige Vertriebenenverbände die ausdrückliche Anerkennung der polnischen Westgrenze nicht einfach schlucken würden. Die „zuständigen“ Landsmannschaften repräsentieren eine Minderheit derer, die teils vor dem 8.Mai 1945 ihre frühere ostdeutsche Heimat „räumten“ und teils nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges weggejagt wurden.
Man sollte festhalten: An jedem dieser Menschen ist ein schweres Unrecht begangen worden. Unrecht an einem einzelnen Menschen läßt sich nicht gegen anderes - auch nicht gegen vorangegangenes - Unrecht aufwiegen. Es wird nicht durch den Hinweis geringer, daß die Deutschen zuvor mal 30, mal 60 Millionen Polen, Russen oder Ukrainer „in Fußmärschen nach Sibirien aussiedeln“ wollten, und daß die Begriffe „Aussiedlung“ oder „Evakuierung“ in der deutschen Behördensprache zu Synonymen für den Massenmord an Abermillionen Menschen geworden waren.
Die Frage ist allerdings, wer alles dieses Unrecht verursacht hat. Die Flüchtlinge des Winters 1944/1945 waren nicht nur und nicht primär die Opfer von Rotarmisten und Polen. Zunächst war es der deutsche Staat selbst, der die „Räumung“ der bedrohten Ostprovinzen anordnete. Daß die Fliehenden auch genau wußten, warum sie die Rache der Polen oder Russen zu fürchten hatten, spielt hier keine Rolle. Für die deutsche Staats- und Militärführung ging es erklärtermaßen darum, das „Menschenmaterial“ für den Krieg zusammenzuhalten. Oberster Organisator dieser subjektiv als Flucht empfundenen „innerdeutschen Umsiedlung“ in den letzten Monaten und Wochen des Dritten Reiches war Heinrich Himmler. Allein dabei kam etwa eine Million Deutsche ums Leben. Ihr Tod war nicht nur im allgemeinen Sinn der Kriegsschuld von deutscher Seite mitverursacht, sondern auch im konkreten Zusammenhang der „Räumung“ Ost- und Westpreußens, Pommerns und Schlesiens Teil der spezifischen deutschen Kriegsführung, die das Leben jedes einzelnen Menschen, auch das jedes einzelnen „Volksgenossen“, längst zum Nichts entwertet hatte.
Wenn nun der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU im Bundestag, Alfred Dregger, von „einem der größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte“ spricht, das von anderen Völkern an den den Ostdeutschen begangen worden sei, so ist das reine Demagogie. Statt aus dem Leid derjenigen, die Räumung, Flucht und schließlich Vertreibung zu erdulden hatten, politisches Billigkapital zu schlagen, wären Worte und Gesten der Versöhnung angebracht.
Götz Aly
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