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8.000 Chinesen als vegetarische Kronzeugen

■ Eine der größten epidemiologischen Studien der Geschichte untersuchte das Ernährungsverhalten in China und die Auswirkungen auf die Gesundheit

„Im Grunde sind wir eine vegetarische Art“, stellt Colin Campbell, Biochemiker an der amerikanischen Cornell -Universität, fest. Zu diesem Schluß kommt er nicht leichtfertig. Untermauern kann er sein Bekenntnis zum menschlichen Vegetariertum mit einem 920 Seiten starken Band, der nichts als Zahlen enthält, das Ergebnis einer epidemiologischen Studie in China. Die Analyse der Daten ist noch lange nicht beendet, doch der wichtigste Schluß scheint bereits festzustehen: Unsere Ernährung macht uns krank und zwar kränker, als wir bisher vermutet haben. Nicht nur Herz und Kreislaufmiseren haben wir westlichen Schlemmer unseren Steaks und Eiern, Sahnesoßen und Käseaufläufen zu verdanken, sondern auch die häufigsten Krebsarten, Diabetes, Osteoporose (Knochengewebsschwund) und viele Stoffwechselkrankheiten sollen diätbedingt sein.

Übergewicht, so die Studie, hat weniger mit der Menge, aber viel mit der Qualität der Nahrung zu tun. Ein Chinese verzehrt zwanzig Prozent mehr Kalorien, wiegt aber 25 Prozent weniger als ein Amerikaner. Doch der Chinese nimmt auch nur ein Drittel soviel Fett, dagegen doppelt soviel Stärke zu sich wie der westliche Durchschnittsbürger. Ernährungsforscher predigen schon lange: Fett wird leichter gespeichert, während die Kalorien aus Kohlenhydraten Stärke und Zucker - in Form von Wärme abgegeben werden. Eiweiße, besonders tierisches Eiweiß, gehen uns laut der Studie auch an die Nieren - und an Leber, Herz und Gedärm. Die Amerikaner vertilgen ein Drittel mehr Eiweiß als die Chinesen. Davon stammen 70 Prozent von Tieren. Nur sieben Prozent des von Chinesen verzehrten Eiweißes ist dagegen tierischer Herkunft.

Je höher der Anteil tierischen Eiweißes, so die Studie, desto häufiger treten die „Krankheiten des Überflusses“ auf: Herz- und Kreislaufversagen, Krebs und Diabetes. Unsere üppige fett- und eiweißhaltige Diät scheint besonders Frauen zu gefährden. Dank dieser Ernährung erreichen Mädchen die Pubertät drei bis sechs Jahre früher als Chinesinnen. Frühe Menstruation ist ein Risikofaktor bei Brustkrebs und verschiedenen Formen von Unterleibskrebs. Diese Krebsarten treten bei chinesischen Frauen kaum auf.

Insgesamt nahmen Campbell und seine britischen und chinesischen Kollegen im Rahmen der Studie 150 Krankheiten unter die Lupe. 8.000 Chinesen machten exakte Angaben über ihre Ernährungsgewohnheiten und Krankheitsgeschichten. Außerdem wurde die Todesursache und -häufigkeit in den verschiedenen untersuchten Regionen festgestellt. Die 1983 begonnene Studie gilt als eine der größten jemals durchgeführten epidemiologischen Untersuchungen. China macht's möglich. Kein anderes Land bietet den Forschern ein so günstiges „lebendes Labor“. Chinas Bevölkerung ist groß. Doch die Mobilität der Chinesen ist gering, und ihr Lebensstil bleibt von der Wiege bis ins Grab meist unverändert. Neunzig Prozent der Chinesen leben und sterben in dem selben Landkreis, in dem sie geboren wurden. Sie ernähren sich von lokal angebauten Lebensmitteln, die zeitlebens gleichbleiben, aber von einer zur anderen Region stark variieren. Sie trinken ihr Leben lang das gleiche Wasser und sind immer den selben Umweltbedingungen ausgesetzt. Wegen ihrer niedrigen Mobilität sind Chinesen innerhalb eines Gebiets genetisch relativ homogen. Zwischen verschiedenen Regionen herrschen aber große ethnische und damit genetische Unterschiede. Der Arbeitsaufwand für die Studie war enorm. Hunderte von chinesischen Mitarbeitern mußten trainiert werden, Blut- und Urinproben zu nehmen, und den Versuchsteilnehmern bei der Beantwortung eines 367 Fragen langen Interviewbogens zu helfen. Außerdem waren die Chinesen nicht gewillt, sich als blinde Versuchskarnickel behandeln zu lassen. Um sicher zu gehen, daß Urin und Blut nicht auf andere als die abgesprochenen Faktoren untersucht werden - beispielsweise Aids-Virus oder Opium -, begleitete eine Delegation aus China die Proben zur Laboruntersuchung in die USA.

Die Arbeit ist noch lange nicht zu Ende. Campbell hofft, daß die Studie noch in 30 oder 40 Jahren neue Zusammenhänge zwischen Ernährung und Gesundheit aufdecken wird. So soll in den nächsten Jahren Taiwan in die Untersuchung aufgenommen werden. Taiwan liegt in seiner Ernährungsweise „zwischen China und dem Westen“, meint Campbell. Deshalb ist es geeignet, seine These, „Unheil beginnt, wenn wir anfangen, uns mit tierischen Produkten zu ernähren“, zu überprüfen. Auch Skeptiker sind nun eingeladen, die oft als wagemutig geltenden Schlüsse des Forschungsteams zu überprüfen. Sämtliche bisher erhaltene Daten sind in der jetzt erschienenen Veröffentlichung enthalten und somit allen interessierten Forschern zugänglich.

Campbell ist überzeugt, daß seine Untersuchungen noch einige ernährungswissenschaftliche Grundsätze ins Wanken bringen wird. Zum Beispiel: Osteoporose hat nach der Studie nichts mit Kalkmangel zu tun. Die Chinesen nehmen nur halb soviel Kalk wie die Amerikaner zu sich, und trotzdem ist Osteoporose in China fast unbekannt. Allerdings sind bei Chinesen Pflanzen und nicht wie im Westen Milchprodukte der Kalklieferant.

Eine weitere Maxime der westlichen Medizin, Aflatoxine, die von Schimmelpilzen auf Nüssen und Getreiden gebildet werden, verursachten Leberkrebs, will Campbell mit seiner Studie ebenfalls widerlegen: „Wir finden keine Verbindung zwischen Aflatoxin und Leberkrebs, und unsere ist die größte Studie, die sich je mit dieser Frage befaßte.“ Leberkrebs, so die Chinastudie, geht auf chronische Infektion mit dem Hepatitis -B-Virus und hohen Cholesterinspiegel zurück.

Mit Hilfe ihrer zahlreichen Zahlen wollen die Studienleiter nicht nur die westlichen Schlemmer zur pflanzlichen Kost bekehren. Campbell und die chinesischen Mitarbeiter beraten zur Zeit die Behörden in Peking und die Weltbank zur landwirtschaftlichen Entwicklung Chinas. China will wie viele andere Entwicklungsländer seine Landwirtschaft vermehrt von pflanzlicher auf tierische Produktion umstellen. Das sollte es lieber bleiben lassen, meint Campbell: „Diese Studie gibt den Chinesen eine Gelegenheit, aus unseren Fehlern zu lernen.“

Silvia Sanides

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