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Unter Brüdern

■ Ein Porträt der Alice James

Barbara Breysach

Am 31. Mai 1891 schreibt Alice James, Schwester des Schriftstellers Henry und des Psychologen William James, in ihr Tagebuch: „Dem der wartet, wird alles in Erfüllung gehen. Mein Streben mag exzentrisch gewesen sein, aber ich kann nicht darüber klagen, daß es sich nicht brillant erfüllt hätte.“ Zu den vielen körperlichen Malaisen, die Alice James bis zu ihrem 43. Lebensjahr bereits durchlebt hatte, war nun die von ihr ersehnte, die todsichere Krankheit hinzugekommen. Wenige Tage vor diesem 31. Mai hatte der behandelnde Arzt einen Lungentumor diagnostiziert. Die Kranke nahm das neue Leiden wie eine langerwartete Erlösung auf. Nicht weniger befremdlich als dieser Umgang mit Krankheit ist die Tatsache, daß Alice ihren - verglichen mit dem Erfolg der beiden ältesten Brüder - kleinen Ruhm eben diesem exzentrischen Todesverlangen verdankt, das sie ihren Briefen, deutlicher noch ihrem Tagebuch anvertraute. Das Tagebuch hatte sie in den letzten drei Jahren ihres Lebens bis zum Todesjahr 1892 geführt. Seine Überlieferung verdankt es der Freundin und Pflegerin Katherine Loring, die verstand, daß sie einem, vielleicht unausgesprochenen, Wunsch der Verstorbenen nachkam, als sie deren Aufzeichnungen aufbewahrte. Als Henry James später das Tagebuch seiner Schwester las, schrieb er postwendend dem Bruder William: „(...) es ist heroisch (...) in seiner Individualität, seiner Selbständigkeit (...), seiner Schönheit und Eloquenz.“ In seinen Augen hatte sich Alice aufgrund der ästhetischen Qualität ihrer Selbstreflexionen ihres renommierten Familiennamens würdig erwiesen. Der selbe Henry James hatte aber auch die Einsicht, daß in seiner Familie „Mädchen wohl kaum eine Chance hatten“. Schon diese Gegenüberstellung von ästhetischem Lob und psychologischer Erkenntnis wirft ein Schlaglicht auf den seelischen Notstand, den Alice mit ihren Krankheiten ausagierte.

Das Tagebuch war denn auch ein solcher Skandal, daß es erst über 40 Jahre nach dem Tod der Verfasserin 1934 in London mit Zustimmung der James-Erben veröffentlicht werden konnte, dann allerdings eine ausgesprochen interessierte Leserschaft fand. Unter den Zeugnissen weiblicher Hysterie des viktorianischen Zeitalters kommt ihm eine herausragende Bedeutung zu, nicht nur wegen des Ausmaßes von Alices Leiden, sondern auch aufgrund der Unverblümtheit der Leidensoffenbarung und der geradezu exhibitionistisch bezeugten Todessehnsucht. Hinzu kommt, daß Alices Bruder William zu Zeiten ihrer großen Krisen in Paris bei dem französischen Nervenarzt Jean-Martin Charcot lernte. Charcot und später sein berühmtester Schüler Sigmund Freud haben sich in den Anfangszeiten der modernen Psychotherapie mit der Hypnose und der Ursachenforschung von Hysterie beschäftigt. Freuds Hysterieanalysen zählen zu den anerkannten Frühschriften der Psychoanalyse. Als die Hypnose erstmalig als Therapie der Hysterie eingesetzt wurde, war Alice James etwa 30 Jahre alt. Zwar waren diese Versuche umstritten, aber sie machten offenbar so von sich reden, daß auch William James sich zur Ausbildung in Paris entschloß. Dennoch hat, so weit man sehen kann, die Charcotsche Ausbildung ihn nicht dazu veranlaßt, auf das Leiden seiner Schwester einzuwirken.

Alice James hat sich den Ruf einer Frühverstorbenen erworben. Er ist nicht allein in ihrem Todesalter von 44 Jahren begründet, sondern ebenso in der Tatsache, daß Alice bis auf die Spiegelungen, die sie als kleine Schwester in den Briefen der Brüder erfahren hat, überhaupt nur als Leidende und Sterbende überliefert ist. Die Briefe, die sie an Freunde und Bekannte schrieb, stammen aus den letzten acht Jahren und das Tagebuch aus den letzten drei Lebensjahren. Eindeutig hat die Todesnähe die Schreibtätigkeit beflügelt und die letzten womöglich noch bestehenden inneren Zensurschranken überwunden. Die so entstandene Geschichte ihres Lebens steht wie unter verkehrten Zeichen: kurzes Leben, langes Leiden.

1848 war Alice James als jüngstes von fünf Kindern und einziges Mädchen des europabesessenen, amerikanischen Theologen Henry James senior zur Welt gekommen. Der Großvater, ein irischer Einwanderer, hatte seiner Familie ein beträchtliches Erbe hinterlassen. Vor allem aber hatte er seinen Nachkommen vorgelebt, wie man schnell zu Wohlstand und Erfolg kommt. Die Enkel durften sich getrost als Aufsteiger verstehen, und Alices Vater konnte seiner Familie einen großbürgerlichen Lebensstil gewähren, als er sich in New York am Washington Square niederließ. William James, der Mitbegründer der modernen Psychologie, und Henry James, der produktive und bis heute vielgelesene Romancier und Novellist, waren die ältesten Söhne; zwei Jahre nach William kam ein dritter Sohn und weitere zwei Jahre ein vierter Sohn zur Welt. Nur einer von ihnen, Garth Wilkinson, kam durch seinen frühen Tod den Erwartungen seiner Erfolgsfamilie gar nicht nach. Alice hingegen ergriff zielstrebig einen „Beruf“, den sie erfolgreich bis zu ihrem Tod durchgestaltete. Ihre Rolle sollte ihr niemand streitig machen: Sie wurde die Kranke der Familie!

Bedenkt man Alices Selbstdarstellung ihres Lebens als ewigen Wartestand, muß man zu dem Schluß kommen, daß das einzige Bezugssystem in diesem das Ende ständig antizipierenden Leben die Zeit ist. Nicht die mit Arbeit und bürgerlichem Selbsterhalt ausgefüllte, sondern die Zeit an sich, so wie sie Stunde um Stunde und Jahr für Jahr verrinnt, bis sie sich im Tod verewigt hat.

Am 16. Juni 1891 vermerkte Alice stolz in ihrem Tagebuch, daß neben Henries Novellen und Stücken und Williams Psychologie sie selbst den schwierigsten „job“ ergriffen habe: “...not a bad show for one family! especially if I get myself dead.“ Auf die eine oder andere Weise mußte man offenbar als Mitglied des James-Clans zu Anerkennung gelangen.

Neurasthenie und Intelligenz, so Ruth Bertrand, die Herausgeberin von Alices Briefen, ziehen sich wie ein roter Faden durch die Familienbiographie; Krankheitsberichte füllen auch die Briefe der vielgereisten Brüder. Aber eben nur Alice hat ihre körperlichen Leiden: ihre Schwächeanfälle, später die Lähmung der Beine und schließlich den Lungentumor so unerbittlich zum Ausdruck ihrer Daseinsberechtigung gemacht, daß daraus eine perfekt zum Abschluß gebrachte Krankheit zum Tod werden konnte. William James gelang es, seine schlechte physische und psychische Konstitution arbeitend zu überwinden. Er wurde nicht nur ein anerkannter Theoretiker und Verfasser einschlägiger Werke der modernen Psychologie, er wurde auch ein geschätzter Universitätslehrer und Vater mehrerer Kinder. Mit einiger Sicherheit war dieser William für Alice ein attraktiver Bruder und Objekt ihrer Sehnsucht. Es ist bekannt, daß Alice mit einem zweiten großen Krankheitsausbruch reagierte, als William 1878 heiratete, was nicht nur aus der Tatsache zu erklären sein dürfte, daß die neue Schwägerin auch Alice hieß. Aber immerhin existierte durch diese Heirat eine zweite Alice, wohingegen die Schwester Alice während ihres gesamten Lebens keine Beziehung zu einem Mann eingegangen ist. Später, als Alice und Henry in England und William mit seiner Familie in den Staaten lebte, wurde der Schriftstellerbruder die engere Bezugsperson. Durch ihr Tagebuch- und Briefeschreiben kam Alice ihm näher; zeitweise wohnten die Geschwister zusammen und führten, wie Henry es sah, einen harmonischen Haushalt. Henry kam sich in dieser Konstellation vor wie ein verheirateter Mann.

Als junger und als erwachsener Mann hat William seine Schwester mit brieflichen Liebeswerbungen hemmungslos umgarnt: „Du scheinst“, schreibt er als 31jähriger der sechs Jahre jüngeren Alice aus Rom, „Du scheinst mir so schön von hier, so klug, so liebenswert, so sehr in allem der Gegenstand, den ein Bruder so begehrt, daß ich, wenn ich nach Hause komme, gar nichts anderes tun kann, als meinen Arm um Dich zu legen (...).“ Und fünf Jahre zuvor schreibt er ihr aus Dresden: „Ganze Dialoge habe ich darüber verfertigt, wie ich auf Deine Gefühle einwirken würde, wenn Du hier wärst.“ Wie weit die brüderliche Sehnsucht in die Wirklichkeit hineingereicht hat, ist nachträglich kaum festzustellen. Offenbar gab es weder äußere Grenzen noch eine innere Zensur für die inzestuösen Phantasien, und als solche haben sie die Bruder-Schwester-Beziehung mit Sicherheit geprägt, und zwar bis ins Erwachsenenleben. Aus der Lebensgeschichte Virginia Woolfs, um ein anderes Beispiel aufzugreifen, ist bekannt, daß sie die Nachstellungen eines ihrer Brüder als traumatisch erfahren hat. Hemmungslos auch spielen die Briefe von Henry und William die brüderliche Unternehmungslust und Abwesenheit gegenüber der weiblichen Passivität des Zuhausebleibens aus, wodurch Alice eine geradezu exemplarische Veranlagung für nervöse Leiden entwickeln konnte.

Zur hysterischen Disposition wird das Auftreten solcher Erlebnisse gezählt, die beim ersten Erleben nicht ausreichend abreagiert werden konnten und deswegen traumatisch wurden, so daß sie später durch signifikante körperliche Symptome reinszeniert und also körperlich erinnert werden. Zwangsverordnete Untätigkeit und Teilnahmslosigkeit anstelle des psychisch notwendigen Auslebens von Empfindungen, Reizzufuhr ohne Reaktionsmöglichkeiten sind für die hysterische Veranlagung mitverantwortlich und waren durchaus ein Muster der Mädchenerziehung im viktorianischen Zeitalter. Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, daß Alice zur erotischen Projektionsfigur ihrer Brüder wurde, daß aber ihren eigenen sexuellen Phantasien und ihrem eigenen Gemütsleben keine Ausdrucksweise vorbehalten war, wie überhaupt im 19. Jahrhundert die weibliche Sexualität weitestgehend sprachlos und tabubehaftet blieb.

Alices Todessehnsucht, soviel läßt sich sagen, folgte einem Muster, in dem drei Strukturelemente erkennbar sind: Indem sie ihr Leben zu einer tödlichen Karriere machte und so alle Sinnhaftigkeit krude verkürzte und verkehrte, verfiel sie in eine Mimikry der ihr als Kind auferlegten Pose der Passivität und des Wartens, des stets unerfüllten und substanzzehrenden Begehrens von verbotenen, wo nicht schlicht abwesenden Liebesobjekten, für die der älteste Bruder William das Idealmodell darstellte. - Indem sie ihr Todesverlangen schriftlich fixierte, ja es in den letzten Jahren schreibend geradezu auslebte, imitierte sie den Berufsweg von Henry James. Das Tagebuch ist das Werk der Alice James, es ist ihre Hinterlassenschaft an die Nachwelt. Der dritte und womöglich entscheidende Faktor aber war die befremdliche Haltung des Vaters angesichts der Verfassung seiner Tochter. Ende der siebziger Jahre eröffnete die 30jährige Alice ihm, daß sie mit dem Gedanken an Selbstmord spiele; der Vater reagierte auf diese Mitteilung rein theologisch. Er billigte nämlich das Vorhaben, insofern er es, wie er Alice schrieb, nicht als Sünde betrachtete. Psychoanalytisch gesehen brachte er sich Alice gegenüber in eine unterwürfige Position, währenddessen Alice nun gegenüber der Familie und konkreter noch gegenüber ihrem Erzeuger eine sadistische Haltung einnahm. Der Vater war zum Adressaten ihres Todesverlangens herabgesunken. Ohne einen solchen Adressaten wäre die Niederschrift von Alices tödlicher Obsession nicht zustande gekommen. Zunächst nur auf dem Papier, später in die Tat umgesetzt, gab Alice ihren Eltern alles zurück, was diese ihr jemals gegeben hatten: ihr ganzes Leben.

Durch die Todes„erlaubnis“ des Vaters und vielleicht auch negativ begünstigt durch die Haltung ihres Bruders Henry, der wohlwollend betrachtete, wie Alice den britischen Frauen den gesellschaftlichen Rang im Salonleben streitig machte wozu eben auch eine gewisse hysterische Exzentrik zählte wurde Alices Leben immer mehr zu einem geschlossenen Kreis. Die weiblichen Bezugspersonen, erst die Mutter, später eine Tante und die Pflegerin Katherine Loring, hatten zunehmend die Aufgabe, das Leiden zu begleiten.

Man könnte auch sagen, Alice sei an einem verkehrten, einem männlich-patriarchalen Ideal gescheitert, dem nämlich eines strengen protestantischen Pflichtdenkens, das mit seinem rationalen Zugriff auf das Jenseits nicht nur dem Todesereignis nicht gerecht wird. Ebenso versagt es angesichts des anderen Geschlechts, da nämlich, wo Frauen selbst begehren, statt Erfüllungsgehilfin des männlichen Bestrebens zu sein.

Man könnte auch sagen, Alice habe einen ganz und gar antipoetischen Weg eingeschlagen, als sie sich entschloß, ihren Seelenzustand zu beschreiben. Die romantische Auffassung der Poesie als „Gemütserregungskunst“ findet sich in ihrem Tagebuch brillant pervertiert wieder. Kein Gemüt sollte durch ihr Tagebuch erregt, allenfalls ein gesellschaftlicher Skandal ausgelöst werden. Alices Tagebuch übertrifft alle misogynen Tendenzen ihrer Zeit: Es ist die Kriegserklärung einer Frau an ihr eigenes Geschlecht, an die viktorianisch beschnittene Weiblichkeit, wohlgemerkt. Es reiht sich in die James-Familienbiographie als ein gelungener Coup ein. Die klaglose Leidensstatistik rechnet den Tod erfolgreich gegen das Leben auf, das Kalkül ist das der Rache an Lebensverhältnissen, die sich in Alice James‘ Schriften als nicht lebbar entpuppen. Diese kritische Dimension schlägt das Tagebuch und die Briefe einer radikalen, feministischen Moderne zu, innerhalb derer sie einen ersten Höhepunkt ausmachen.

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