Die hohe Kunst des „Cueing“

■ Die Warteschlange: einer der wichtigsten Bestandteile des Wimbledon-Turnieres

Man möchte es kaum glauben. Bis auf 2,5 Kilometer wächst täglich jene Wimbledon-Menschenschlange an, die vor einem kleinen Kartenhäuschen der Tennisanlage beginnt. Die wenigsten der hier Wartenden werden allerdings in den Genuß kommen, sich ein Tennisspiel ansehen zu können. Denn: Karten hat keiner, der sich in der sogenannten „cueing lane“ anstellt. So hoffen denn diese Geduldigen darauf, daß irgendwelche vorbestellten, aber nicht abgeholten Tickets wieder in den Verkauf kommen; oder, daß am späten Nachmittag einige Leute nach stundenlangem Tennisgenuß ihre Karten wieder am Schalter abgeben.

Die neuen Sicherheitsbestimmungen in Wimbledon, die allein auf dem Center Court in diesem Jahr 1.500 Zuschauer weniger zulassen als in den vergangenen Jahren, wirken sich natürlich auf die Länge der „cueing lane“ aus. Jeder der sich dort einreiht, kann das nur mit der beinahe gleichgültigen Hoffnung tun: wenn es heute nicht klappt, dann vielleicht ja morgen. Die Disziplin der Wartenden ist beeindruckend. Hier wird nicht geschubst, erst recht nicht vorgedrängelt. Bei dem renommiertesten Sportereignis Englands zeigt man eben sogar noch außerhalb der Spielanlage die vollendetste Form britischer Ruhe und Geduld.

Weitaus weniger solidarisch geht es dagegen zur gleichen Zeit im Spieler-Aufenthaltsraum zu. Dort gibt es an einem Tisch - gegen einen Coupon - täglich Freikarten für diverse Musical-, Theater- und Opernaufführungen in London. Viele Spieler verschenken ihre Freischeine an Freunde und Verwandte. Da es bis zu zwei Stunden dauern kann, ehe man den Reservierungswunsch vorbringen darf, gibt es hier ständig Streit und Gejohle in allen Sprachen dieser Erde. „Ich habe gleich ein Match“, sagt da ein etwa 30jähriger mit eindeutigem Bierbauchansatz und glaubt dabei allen Ernstes, die elf Kulturhungrigen vor ihm täuschen zu können. Aber die kennen keine Gnade. „Ich habe auch gleich ein Match“, zischt ebenso glaubwürdig eine reizende Oma aus Neuseeland.

Dem Getümmel in der „Player's Lounge“ kann nur entfliehen, wer Einlaß in den hermetisch abgeriegelten Trainingstrakt hinter dem Stadion bekommt. 14 Rasenplätze stehen hier den Spielern tagsüber zur Verfügung. Auf Trainingsplatz Nummer 5 hockt sich nach zwei Minuten Einspielzeit John McEnroe mit Freund Vitas Gerulaitis auf den Rasen und verbringt die restlichen 58 Minuten Trainingszeit mit einem offensichtlich besonders wichtigen Gespräch von Mann zu Mann. Während die beiden sich so tiefgründig unterhalten, stürzt der Schweizer Jakob Hlasek wild gestikulierend auf den Trainingsplatz nebenan. Verschlafen habe er, ruft er dem verdutzten Big Mac herüber, und nicht einmal mehr frühstücken können. In einer Stunde beginne schon sein Match. Hlasek übt schnell noch ein paar Aufschläge und Volleys und, man möchte es kaum glauben, gewinnt das Spiel locker in drei Sätzen. Vielleicht hätte McEnroe vor seinem ersten Match auch nichts essen sollen.

Ralf Stutzki