: 10 Jahre nach Sartre - was bleibt?
■ Eine Diskussion in Frankreich
Vor zehn Jahren ist der Philosoph Jean-Paul Sartre gestorben. Die linksliberale Tageszeitung 'Liberation‘ hat in der letzten Woche die Ergebnisse einer Befragung veröffentlicht, die sie unter Intellektuellen Frankreichs durchgeführt hat. Die Frage war: „Was bleibt von Sartre?“ Wir dokumentieren Auszüge.
„Was bleibt von Sartre? Mir scheint, daß man seine Ideen auch zehn Jahre nach seinem Tod noch nicht von der Person lösen kann. Was auch heute noch fasziniert, ist der Stil eines Lebens, die Anekdoten, die Liebesgeschichten, die Worte, die eine legendäre Person geprägt hat. (...) Bis zum Ende der fünfziger Jahre haben es die Franzosen geschafft, ihren Geschmack und ihre Gewohnheiten intakt zu halten, trotz der beiden Kriege, der Besetzung, der politischen Instabilität und, im Feld der Ideen, der Pariser Avantgarden. In einem zutiefst unbeweglichen Land, das darüber auch noch glücklich ist, konnte man ohne allzu große Mühe nach seinem Gusto leben, ein bißchen auf Distanz, ohne mit den unmittelbaren sozialen Zwängen in Berührung zu kommen. Aber versuchen Sie heute einmal, im Cafe zu schreiben oder Treffen abzuhalten! Und was wird Ihr Verleger sagen, wenn Sie ihm ein metaphysisches Werk mit mehr als 700 Seiten anbieten?
Philosophisch gesehen hatte Sartre zwei Karrieren: Die erste hat ihn von einer phänomenologisch inspirierten Psychologie zum Projekt einer Moral der individuellen Freiheit geführt. Auf diesem Weg war die Berührung mit der Ontologie wohl nur eine Stilübung ohne Folgen. In seiner zweiten Karriere (...) wollte er sein Denken in den „Horizont“ des Marxismus stellen. Aber sein Marxismus ist oberflächlich geblieben, für die ökonomische Analyse hat er niemals viel Sinn gezeigt. Er ist bei der klassischen Frage geblieben: Freier Wille oder Determinismus? Oder: Wie kann das Ich frei sein trotz der Gegenwart der anderen? Ich habe den Eindruck, daß Sartres zweite Philosophie veraltet ist. (...) Seine erste Philosophie dürfte von dem neu erwachten Interesse für die Phänomenologie profitieren.“ Vincent Descombes, Philosop
John Hopkins University, US
„Solange das Handicap Heidegger noch so schwer und regressiv auf der französischen Schulphilosophie lastet, wird der Sartresche Vorstoß in der Tat noch als Befreiung wirksam. Sartre hat begonnen, indem er der Frage Heideggers aus seiner Antrittsvorlesung 1929 - „Was ist die Metaphysik?“ eine größere Tragweite gab und damit auch die Frage nach dem Nichts neu stellte. Sartre hat in diesen Fragen eine Grenze aufgerichtet und sich auf den Heidegger aus der Zeit vor den zerstörerischen Eingriffen der Nazis in dessen Philosophie bezogen. Den Heidegger also, den die Presse im Januar 1934 zwar noch als Philosophen und Nationalsozialisten rühmte, der einige Monate später jedoch in einer SS-Publikation des metaphysischen Nihilismus angeklagt wurde. Und Heidegger stimmte dieser absurden Gleichung - (griechisch-arabische) Metaphysik gleich (russischer) Nihilismus - zu. So scheint es heute, daß Sartres Offensive von 1943, die an den Heidegger von vor 1933 anknüpfte, ein intuitiver Geniestreich und eine wirksame Abwehr war. (...) Es mag Redundanzen bei Sartre geben, aber er hat seinen Beitrag zur Befreiung aus den Heideggerianischen Verwirrungen geleistet.“ Jean-Pierre Faye, Philosoph, Pari
„Die Fragestellung macht mich ein bißchen verlegen: Was „bleibt“ von Sartre? Für mich ist Sartre ein Autor wie Goethe oder Beethoven: Man akzeptiert ihn ganz oder gar nicht. Ich habe fast 15 Jahre lang nicht nur Sartres Schriften in mich aufgesogen, sondern auch seine Handlungen. Alles, was ich gesagt oder getan habe, ist also auch davon geprägt. Mir ist es lieber, mit Sartre im Unrecht gewesen zu sein als mit Aron im Recht. Im Grunde meines Herzens glaube ich nach Jahrzehnten des Formalismus, des Strukturalismus und der Postmoderne zwar nicht an eine Rückkehr zu Sartre, aber daran, daß man ihn neu in Betracht wird ziehen müssen.“ Felix Guattari, Psychoanalytiker, Pari
„Er hat über den Gulag gelogen. Er hat in einer fast noch beschämenderen Weise über den sadistischen Vandalismus und den Schlamassel der chinesischen Kulturrevolution gelogen. Er hat die Bourgeoisie so sehr gehaßt, wie es nur ein bourgeoiser Mandarin tun konnte. Er hat im Marxismus und kollektivistischen Totalitarismus die Absolution von seiner zwiespältigen Lage gesehen - die große Buße. Da er sie nur aus der Distanz betrachtete, ging er wenige Risiken ein, die aber mit einem mächtigen Stimulus verbunden waren. Seine zwar fruchtbaren, aber seltsamerweise masturbatorischen Liebesgeschichten mit dem Terrorismus und der maoistisch -leninistischen Rache sind heute von einem grotesken Anachronismus.
Dennoch ist das Fegefeuer des Jean-Paul Sartre, unser heutiger Eindruck, daß er „nicht mehr aktuell“ ist, nicht dauernd. Dafür ist er zu wichtig, zu sehr bedarf er einer kritischen Neubewertung.“ George Steiner, Professor für Literatur in Gen
„Ich vermag nicht zu sagen, wie wichtig die Ideen und das Beispiel Sartres in der Entwicklung des kritischen Geistes waren, der für die Ereignisse in der DDR im Oktober und November 1989 eine nicht zu vernachlässigende Rolle spielt. Aber ich stehe nicht an, zu behaupten, daß seine Entzauberung von allen Formen von Macht, die Vernichtung hohler Autoritäten und sein moralischer Anspruch in den großen Novemberdemonstrationen mindestens ebenso gegenwärtig waren wie in den enttäuschten Hoffnungen auf einen 'dritten Weg‘.“ Vincent von Wroblewsk
Akademie der Wissenschaften Ost-Berli
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