: Vom neuen Anfang einer Rostocker Frauenkarriere
■ Über Alltag und Aufstieg von Gudrun Giebel / Von der ungelernten Raumpflegerin zur Bürgerschaftsabgeordneten
hier bitte das Foto mit der Frau
An Gudrun Giebels Wohnungstür im siebten Stock in der Allee der Bauschaffenden in Rostocks Trabantenstadt Lütten-Klein stehen drei verschiedene Namen: der der vierjährigen Nadine, die den Namen des geschiedenen Vaters trägt, der des Lebensgefährten
der Mutter, Paul, 28, und der Name der 34jährigen Raumpflegerin selber, die Anfang Mai von den KommunalwählerInnen in die Rostocker Bürgerschaft gewählt wurde.
An den Türen in Lütten-Klein steht immer nur ein Familienname. Das Zusammenleben von Wohngemeinschaften ohne Trauschein - erst recht von Partnern gleichen Geschlechts ist nicht üblich in Rostock, weil nur Verheirateten ein eigenes Domizil zugewiesen wird. So kann sich die Nachbarschaft auch nicht an andere Lebensformen gewöhnen, es gibt sie einfach nicht. Und noch etwas anderes durfte es in der DDR-Gesellschaft nicht geben: Gewalt gegen Frauen.
Paradoxerweise ist genau dies der Angelpunkt für Gudrun Giebels Karriere. Auf dem von Pauls
Kakteen-Urwald bewucherten Balkon mit Blick auf eine gerade Linie von Wohnblöcken erzählt sie, wie es dazu kam, „daß ich als ganz einfache, unbedeutende Person gewählt worden bin.“ Früher, auch nach ihrer Zeugenaussage vor sechs Jahren gegen ihren Mann, der sie und ihre beiden Kinder während der gesamten zehnjährigen Ehe mißhandelte, ging es ihr immer schlecht. Ein Krankheitssymptom folgte auf das nächste. Allseitig abgewimmelt
„Niemand wollte die Wahrheit hören; Ärzte, Jugendamt und Fürsorge, Polizisten auf der Wache wimmelten mich ab. Eines Tages, ich hatte die Kinder woanders untergebracht, habe ich die Wache nicht mehr verlassen. Ich habe gesagt, ich geh hier nicht weg, bis sie ihn abgeholt haben. Das dauerte Stunden. Schließlich fanden sie einen brauchbaren Paragraphen und holten ihn. Zum Glück war er so wütend, daß er gleich sagte, natürlich habe er mich geschlagen. Die Verhandlung war trotzdem so, als wenn ich schuld gewesen wäre.“
Nach einem Jahr Haft stand ihr Mann wieder vor der Tür. Gudrun Giebel verlor die Nerven und ihr Kind, das im dritten Monat war. Auch nach der Scheidung gingen die Krankheiten weiter. Immer noch konnte sie ihre Gewalt-Geschichte nicht verarbeiten. „Die Ärzte merkten nicht mal, daß ich aufgrund psychosomatischer Symptome abhängig von Kopfschmerztabletten war. Mir wurde das selbst erst klar, als ich in unserer Selbsthilfegruppe von Tablettenabhängigkeit erfuhr. Man schickte mich zum Psychiater, der wollte wissen, ob ich sexuelle Träume habe. Ich konnte nicht darüber sprechen,
selbst meine Arbeitskolleginnen zuckten bedauernd mit den Schultern. In der gesunden sozialistischen Gesellschaft gab es nur die strahlende, gesunde Familie. Andere Bilder gab es nicht. Deswegen schwieg man, wenn man eine Nachbarin mit blauem Auge in der Kaufhalle traf.“
Gemeinsam mit dem Unabhängigen Frauenverband sorgt Gudrun Giebel jetzt für Risse in dieser öffentlichen Oberfläche. „Erst mit der Wende dieser Gesellschaft wurde es anders. Aus dem Westfernsehen kannte ich eure Frauenhäuser, Beratungsstellen und Notruf-Nummern. Ich rief beim Unabhängigen Frauenverband an und fragte, ob sie dazu 'was anbieten. Wir gründeten die Gruppe 'Frauen in Sucht- und Gewaltsituationen‘. Ich arbeitete mit am Wahlprogramm, kandidierte selbst für meinen Stadtteil. Bei den öffentlichen Vorstellungen der Parteikandidaten sagte ich, daß ich mich für Probleme von Frauen einsetzen will. Keiner hatte Fragen, während die anderen Kandidaten gelöchert wurden. Trotzdem haben mich einige gewählt, was ich nie gedacht hätte. Viele fragten mich auf der Straße, warum ich diesen Anstecker trage. Ich erzählte, was ich jetzt so alles mache nach der Arbeit, die konnten das gar nicht nachvollziehen. Ohne Bezahlung arbeiten? Aber seitdem ich sagen kann, was ich denke, geht es mir gesundheitlich viel besser. Die wechselnden Symptome sind weg.“
Rostock hat jetzt eine Frauenbeauftragte, einen Verein „Frauen helfen Frauen“, der ein Frauenhaus auf die Beine zu stellen versucht, und einen Notruf. Gudrun Giebel hat keinen Beruf erlernt. Die begehrte Lehrstelle als Krankenschwesternschülerin
gab es nur mit Beziehungen. „Ich habe zum ersten Mal das Gefühl, zeigen zu können, was ich kann,“ sagt sie heute.
gürt
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen