: Aufhebung der Zeit im Augenblick
■ Vor hundert Jahren wurde Pietro Mascagnis „Cavalleria Rusticana“ uraufgeführt
Ein Porträt des Komponisten
Von Rein A.Zondergeld
Eine Begegnung,
die nicht stattfand
In seiner 1948 auf deutsch erschienenen Tschaikowsky -Biographie teilt Herbert Weinstock über die Wien-Reise des russischen Komponisten im September 1892 in einer Fußnote die folgende Anekdote mit: „Während seines Aufenthaltes in Wien entdeckte Peter Iljitsch eines Tages in einem Hotel, daß Pietro Mascagni das Zimmer neben ihm bewohnte. Er wollte gerne die Bekanntschaft des Komponisten der Cavalleria Rusticana machen und versuchte deshalb, bei ihm vorzusprechen. Da er aber eine Schar von Mascagni-Verehrern in der gleichen Absicht vor der Zimmertür des Italieners Schlange stehen fand, ließ er den Gedanken fallen, und so hat er Mascagni nie gesprochen.“
Aufschlußreich ist diese zugleich rührende und leicht burleske Anekdote in mancherlei Hinsicht, aber am meisten dürfte den heutigen Leser die scheinbare Verkehrung der Verhältnisse verblüffen. Wieso drängten sich die Wiener, und nicht zuletzt die Wienerinnen, vor der Tür des gerade 28jährigen Maestros aus Livorno und ließen den auch damals schon weltberühmten Russen im Nebenzimmer unbeachtet?
Wettbewerb
und Welterfolg
Seine ersten musikalischen Erfolge hatte der hübsche, schon in jungen Jahren vor Selbstsicherheit strotzende Sohn eines Bäckermeisters aus einem alten, inzwischen nicht mehr existierenden Viertel Livornos in seiner Heimatstadt errungen. Die großzügige Unterstützung eines Mäzens erlaubte ihm 1881 das Studium am Mailänder Konservatorium; zu seinen Lehrern gehörte Amilcare Ponchielli, zu seinen Komilitonen Giacomo Puccini, mit dem er zeitweilig die Wohnung teilte. Spätere Biographen beider Komponisten haben sich mit Begeisterung der zumeist apokryphen Anekdoten aus dieser gemeinsamen Studentenzeit bedient und in ihnen den Kern von Puccinis La Boheme entdecken wollen. Offenbar gefielen Mascagni die strengen Unterrichtsmethoden am Konservatorium genauso wenig wie die pittoreske Armut im ungeliebten Milano: 1884 brach er sein Studium ab, ließ sich als Kapellmeister bei einer herumreisenden Operettengruppe verpflichten und wurde schließlich Ende der achtziger Jahre Dirigent des Städtischen Theaters im süditalienischen Cerignola. Als der Mailänder Musikverlag Sonzogno den Wettbewerb für eine neue einaktige Oper ausschrieb, entschloß sich der junge Maestro, der inzwischen geheiratet hatte und dem es finanziell nach wie vor miserabel ging, zu einer Beteiligung. Er wählte als Vorlage eine Erzählung des naturalistischen Erzählers Giovanni Verga, Cavalleria Rusticana, das Libretto schrieben ihm seine Livorneser Freunde Giovanni Targioni-Tozzetti und Guido Menasci. Die rasche Entstehung der Komposition, die dennoch erst in letzter Minute abgeschickt werden konnte, ist zur Legende geworden, genauso wie der unerwartete Sieg und die Uraufführung im Römer Teatro Costanzi. In seinen von Arthur Bremer aufgezeichneten und 1893 in Wien auf deutsch erschienenen Erinnerungen Aus dunklen Tagen schreibt der Komponist über jenen denkwürdigen 17.Mai 1890: „Ich sehe das Teatro Costanzi vor mir, das nur schwach besucht war. Ich sehe nach den letzten Schlägen des Taktstockes, alle die Hände und Arme des Publikums in der Luft gesticuliren, als ob sie mich bedrohen wollten, in meiner Seele zittert noch das Echo jenes Lärmens, Jubelns, Schreiens nach, das mich damals beinahe erschreckte. Der Eindruck, den die Szene auf mich machte, war so stark, daß ich bei der zweiten Vorstellung bitten mußte, jedesmal, wenn ich herausgerufen wurde, die Lichter des Kronleuchters niederzuschrauben, weil die Fluth des mir entgegenströmenden Lichtes mich blendete, verwirrte und auf mich den Eindruck eines feuerflammenden Abgrundes machte, der mich zu verschlingen drohte...“
Der Erfolg der Oper beschränkte sich nicht auf Italien, das sizilianische Bauerndrama begeisterte die ganze Welt. Das Publikum war der historischen Tragödien im Stil der Grand Opera genauso müde geworden wie der mythischen Düsterkeit Wagners und entdeckte in dem flotten, wenn auch nicht gerade zimperlich mit seinen Liebchen umgehenden Dorf-Don-Juan Turiddu einen Helden nach ihrem Gusto. Die Cavalleria wirkte wie ein Konzentrat aller traditionellen Opernkonflikte: Liebe, Verführung, Untreue, Eifersucht, Mord und Totschlag, zudem noch Trinklied und Gebet und das alles in anderthalb Stunden, ein größerer Kontrast zu Don Carlos oder Götterdämmerung ließ sich kaum denken.
Über die Wiener Erstaufführung der Cavalleria und den Triumph des jungen, auch wegen seines blendenden Aussehens und extravaganter Kleidung wie ein heutiger Popstar gefeierten Komponisten schrieb Eduard Hanslick, der Mascagni wohlgesonnen bleiben sollte: „Welch ein unerhörter Erfolg, diese Cavalleria Rusticana! Ein übertriebener, wenn wir ihn an dem musikalischen Wert des Werkes messen - aber jedenfalls ein aufrichtiger. Neben dem Publikum gerieten auch die Schriftsteller in ungewohnte Bewegung; wo es sonst Feuilletons gab, regnete es jetzt Broschüren. Der Komponist der Cavalleria erschien darin als der Inbegriff des musikalischen Jahrhunderts, als ersehnter Messias der dramatischen Musik. Es fehlte nichts weiter als ein Buch 'Mascagni als Erzieher'“ (Die Moderne Oper, Bd.7, Wien 1895).
Nach der „Cavalleria“
„Ich wurde gekrönt, bevor ich König war“, soll Mascagni einmal erbittert gesagt haben, viele Jahre nach dem Triumph der Cavalleria. Die „Mascagnitis“ verbreitete sich über die Welt: Nicht nur wurden die (ungewöhnliche) Bartlosigkeit, die stürmische Frisur des jungen Maestros begeistert kopiert, auch seine Art, Krawatten zu binden, fand viele Nachfolger. Es gab Westen, Hosen und Stiefel a la Mascagni, während gleich ganze Rudel von Kollegen den musikalischen Erfolg zu wiederholen versuchten. So schrieb der deutsche Komponist Edmund von Freyhold der Cavalleria zweiten Teil (Santuzza), in dem die Folgen von Turiddus sexuellem Freibeutertum - sowohl Santuzza als auch Lola haben von ihm ein Kind bekommen - zu Inzest und selbstverständlich blutigsten Konsequenzen führen. Geblieben von all den mörderischen Kurzopern sind nur I Pagliacci von Ruggero Leoncavallo und Jules Massenets La Navarraise, ein dermaßen brutales Konzentrat des Schreckens, daß eine parodistische Absicht immerhin vermutet werden könnte.
Der frühe Weltruhm hat dem Komponisten freilich eher geschadet als genützt. Von nun an galt er als „der Schöpfer der Cavalleria“, und je mehr sich Mascagni vom Stil seines Jugendwerks entfernte, um so größter wurden die Rezeptionsschwierigkeiten bei Kritik und Publikum, die immer neue Aufgüsse des sizilianischen Bauerdramas erwarteten. Allerdings läßt sich schon in der Cavalleria Mascagnis sein Bestreben erkennen, das Wort zum auslösenden Moment zu machen, das die musikalische Struktur bestimmt. Die Gesangslinie geht aus dem Wort hervor und läßt seinen tieferen, symbolischen Sinn vermuten. Das Orchester erhält die Funktion, das gesungene Wort emotional zu erhöhen, und zwar nicht nur in der Verstärkung der Gesangsphrasen, sondern vor allem in den immer wieder auftretenden rein orchestralen Passagen, die dem Gesang vorangehen oder nachfolgen und damit Emphase verleihen. Mascagnis Vorliebe für das Orchesterintermezzo, das geradezu zu seinem Markenzeichen wurde - in acht seiner Opern gibt es solche Zwischenspiele - läßt sich aus dieser musikalischen Strukturierung leicht erklären. Dieser Stil trug Mascagni von Anfang an immer wieder den Vorwurf des Fragmentarischen, des Improvisierten ein, obwohl er als notwendige Unterstützung des mit großer Konsequenz entwickelten stilo declamativo gerade zur größeren Einheit beiträgt.
Mascagni machte sich jetzt, aus Wut darüber, daß manche Kritiker den Erfolg der Cavalleria in erster Linie der spannenden Handlung zuschrieben, auf die Suche nach einem einfachen Libretto, „mit einer dünnen, fragmentarischen Handlung, damit ich nur wegen meiner Musik und wegen nichts sonst als meiner Musik beurteilt werde“. Aus diesem Wunsch entstand schließlich, mit Hilfe mehrerer Librettisten das elsässische Idyll L'amico Fritz, dem nun wiederum die zu geringe Handlung angekreidet wurde. Aufgrund der auffallenden Handlungskontraste der beiden ersten Mascagni -Opern wurde freilich die Ähnlichkeit übersehen. Diese findet sich vor allem in der Betonung des jeweiligen Lokalkolorits und der symbolischen Erhöhung einer grundsätzlich einfachen, realistischen Handlung. Beide Elemente werde auch für die weitere Produktion des Toskaners bestimmend bleiben, ob es sich nun um den dekadenten Japanismus der Iris (Rom 1898) oder die Hochgebirgswelt der Amica (Monte Carlo 1905) handelt. Ein besonders krasses Beispiel für Mascagnis Neigung, das Atmosphärische, die couleur locale zu Ungunsten der eigentlichen Handlung zu betonen bietet Silvano (Mailand 1895). Dort werden die tragischen Ereignisse einer an die Cavalleria erinnernden Dreiecksgeschichte im Fischermilieu so sehr an den Rand gedrückt, daß das Ganze eher wie ein poetisches Stimmungsbild mit unerwartet blutigem Ausgang wirkt.
Privates Intermezzo
Meine erste Erinnerung an eine Musik Mascagnis, die nicht aus der Cavalleria stammt, geht auf meine Kindheit zurück. In meinem Elternhaus war es Sitte, am Sonntagnachmittag zwischen zwei und vier Uhr nachmittags, wenn es keinen Fußball gab, dem Opernkonzert des Flämischen Rundfunks zu lauschen. Da ich zu dieser Zeit eigentlich nur Wagner und Strauss hören wollte, paßte ich bei den Ansagen italienischer Opernmusik nicht immer gut auf. Und dann erklang eines Nachmittags eine merkwürdig exotische Melodie aus dem kleinen Lautsprecher, zugleich träge und vorwärtsdrängend, eine Melodie und eine Tenorstimme, der ich nicht widerstehen konnte... Die Stimme gehörte Giuseppe di Stefano, was ich hörte war der Anfang des großen Duetts zwischen dem Prinzen Osaka und Iris aus dem 2.Akt der Oper Iris, in dem der Verführungsversuch des Mannes an der Unschuld des in ein Bordell verschleppten Mädchens scheitert: „O come al tuo sottile corpo...“ Zumindest eine Verführung war gelungen, denn von diesem Augenblick an blieb ich, bis heute, süchtig nach Mascagnis Musik, nach dieser unnachahmlichen Mischung aus Dynamik und Ermattung, nach dieser sinnlichen Trauer, die nur bedingt mit der mestizia toscana, der toskanischen Melancholie, in Verbindung gebracht werden kann und die vielmehr dem Paradoxon der (männlichen) Sexualität zu entspringen scheint: Ein Vorwärtsdrängen, das von dem tiefen Wunsch nach Erstarrung, nach Aufhebung der Zeit in einem verewigten Augenblick strebt. Kein Wunder daher, daß Mascagnis Meisterwerk Parisina (Mailand 1913) zu einem Text Gabriele d'Annunzios geschrieben wurde, der seine zum Tode auf dem Schafott verurteilten liebenden Parisina und Ugo d'Este im 4.Akt der Tragödie jenen Zustand der entrückten Ekstase erreichen läßt, in dem die Zeit aufgehoben zu sein scheint: „Non odo piu, non odo piu la stilla del tempo...“ (Nicht mehr höre ich, nicht mehr höre das Tropfen der Zeit).
Mascagni und d'Annunzio
Die Beziehungen zwischen Mascagni und dem „Fürsten der Dekadenz“ Gabriele d'Annunzio hatten wenig verheißungsvoll angefangen. Am 2.9. 1892 hatte der Dichter in einer Neapolitaner Zeitung einen sehr wenig schmeichelhaften Artikel über den neuen Helden der italienischen Musik mit dem Titel Il Capobanda (Der Kapellmeister) veröffentlicht und Mascagni darin als vulgären Emporkömmling und Tempelschänder einer noblen Musiktradition angeprangert. Sieben Jahre später versöhnten sich die beiden aber, als der Dichter eine Iris-Aufführung in Neapel besuchte, die ihm deutlich gemacht haben dürfte, daß sie beide durchaus gleichen Idealen nachstrebten.
Schon 1902 hatte d'Annunzio den Plan gefaßt, nach Francesca da Rimini eine weitere blutige Episode aus der Geschichte des Hauses Malatesta, die tragische Geschichte der Parisina d'Este, die schon Byron und Donizetti inspiriert hatte, für die Bühne einzurichten. Als aus einer Zusammenarbeit zwischen Puccini und d'Annunzio nichts wurde, brachte Mascagnis Verleger Lorenzo Sonzogno den zuerst eher skeptischen Maestro mit dem Dichterfürsten zusammen. Die aufwendige Scala-Premiere des italienischen Tristan - so schon bald die Bezeichnung für Parisina - wurde am 15.12. 1913 wohl nicht zuletzt aufgrund der Länge nur zu einem Achtungserfolg. Giovanni Orsini, ein glühender mascagnano und der Verfasser eines 1926 erschienenen Vangelo d'un Mascagnano (Das Evangelium eines Mascagni -Anhängers), setzt in der 1919 erschienenen Streitschrift Parisina! Parisina! nicht nur den verschiedenen Kritikern auf brilliant-bösartige Weise zu, er teilt auch die Reaktionen einiger prominenter Besucher mit. So soll Puccini zwar die vielen Schönheiten der Partitur gepriesen haben, aber sein Fazit sei gewesen, daß Mascagni sich ruiniert habe, weil er zu stark dem Text d'Annunzios gefolgt sei. Diese Meinung prägte auch weitgehend die Zeitungskritiken. Daß Riccardo Zandonai keine allzu große Begeisterung für das neue Werk seines ansonsten verehrten Lehrers an den Tag legen konnte, versteht sich durchaus, wenn man bedenkt, daß seine eigene Francesca da Rimini nach der gekürzten Tragödie d'Annunzios und mit sehr deutlichen Anleihen bei Mascagnis, der Parisina vorangegangenen Legendenoper Isabeau (Buenos Aires 1911) zwei Monate später an derselben Stelle Premiere haben sollte. Seine Musik zu Parisina charakterisierte Mascagni in einem Brief an seinen Freund Gianfranceschi vom 8.12. 1912 auf plastische Weise: „Mein ganzes Streben war darauf gerichtet, die Verse in der Musik zu reproduzieren. Nicht sie zu kommentieren: sie zu vertiefen. Man kann in der Musik das Wort und die Gefühle ausdrücken, ohne nach dem System zu verfahren, das heute so sehr in Mode ist: Da gibt es dann oben ein Rezitativ und unten ein Kommentar des Orchesters. Das ist Filmmusik. (--) Wenn die Kritik sagen wird, daß Mascagni sich d'Annunzio angepaßt habe, werde ich antworten: „Richtig.“ In Parisina singe ich mit Emphase seine Tragödie. Nichts anderes. Aber ich singe sie, rezitiere sie nicht. Und da liegt er ganze Unterschied.“
Mascagni
und der Faschismus
Von der Cavalleria bis hin zu seiner letzten Oper Nerone (Mailand 1935) läßt sich eine Vorliebe Mascagnis für blutige Stoffe feststellen, in denen die Sinnlichkeit erst im Anblick der Gefahr, oft sogar direkt im Angesicht des Todes ihre vollkommenste Befriedigung finden kann. Die Verse der von Mascagni bevorzugten Dichter wie Luigi Illica oder d'Annunzio stilisieren diese Grundsituation zu wahren Festen der Leidenschaft und des Blutes um und Mascagnis Musik läßt jedes Gefühl der Bedenklichkeit angesichts eines solchen ekstatischen Feierns extremster Situationen im Rausch verschwinden.
Der Livorneser Aldo Santini hat in seinem 1985 erschienenen Büchlein Mascagni viva e abbasso die These vertreten, daß der frühe Tod Puccinis am 29.11. 1924 Mascagnis Unglück gewesen sei, denn jetzt konnte das faschistische Regime, das ein starkes Bedürfnis nach kultureller Repräsentation an den Tag legte, sich nur noch an Mascagni als den berühmtesten lebenden Komponisten Italiens halten. Dabei hatte die Machtübernahme durch die Faschisten dem als „Roter“ und „Bolschewik“ verschrienen Komponisten, der sich noch 1920 öffentlich mit den streikenden Arbeitern solidarisiert hatte, die eine Werft in seiner Heimatstadt Livorno besetzt hielten, zuerst nur wenig Gutes verhießen. Jetzt aber, da das Regime ihn als Gallionsfigur brauchte und weil der Duce ein aufrechter Bewunderer Mascagnis war, entschloß man sich, die Vergangenheit des Maestros zu ignorieren und die vielen kritischen Äußerungen des wegen seiner sarkastischen Zunge Gefürchteten als „typisch toskanisch“ gütig zu verzeihen. Die Ernennung Mascagnis zum offiziellen Vertreter Italiens bei den Wiener Beethoven-Feiern des Jahres 1927 und seine Aufnahme, unter anderem neben Umberto Giordano und Lorenzo Perosi in die von Mussolini gegründete Accademia d'Italia brachten den für Ehrungen immer sehr empfindlichen Maestro schließlich 1932 dazu, Parteimitglied zu werden. Inzwischen hatte er sich freilich durch seine kritischen Äußerungen und Reformvorschläge zur Musik- und Theaterpolitik der Regierung schon genauso viele Feinde geschaffen wie in seiner Zeit als Konservatoriumsdirektor in Pesaro zu Anfang des Jahrhunderts. Daher sah er sich erheblichen Schwierigkeiten gegenüber, für seine neue Oper Nerone, in der er zum Teil wesentlich älteres Material schon früh angefangener, aber nicht vollendeter Römer-Opern benutzt hatte, eine Uraufführungsstätte zu finden. Weil sich auch die Verlage zurückhielten, ließ er das Aufführungsmaterial auf eigene Kosten drucken. Die Unterstützung durch Galeazzo Ciano, den mächtigen Propagandaminister und Schwiegersohn Mussolinis, Livorneser wie Mascagni, war ihm schließlich von Nutzen und letztendlich ordnete der Duce selbst die Uraufführung an der Mailänder Scala, elf Jahre nach Boitos Nerone am 16.1. 1935, dem 13.Jahr der faschistischen Herrschaft, an.
In gewissem Sinne kann Nero als die logische Apotheose aller zwiespältigen Tenorhelden Mascagnis, von Turiddu und Osaka bis Ugo d'Este in Parisina und dem Prinzen de Fleury in Il piccolo Marat (Rom 1921) gesehen werden: In seiner rein ästhetischen Betrachtung des Daseins wie in seinem erbitterten Zynismus, so wie er sich am Schluß der Oper äußert, steckt zweifellos viel von ihrem Komponisten.
Die von einer gewaltigen Medienkampagne begleitete Uraufführung, die vom Rundfunk ins Ausland übertragen wurde, war nicht nur eins der größten musikalischen Ereignisse im Italien der 30er Jahre, sondern gestaltete sich auch zu einem letzten Triumph für den greisen Maestro. Der Duce war vorsichtshalber der Premiere ferngeblieben, hatte aber Galeazzo Ciano geschickt und ließ sich in den Pausen der dreiaktigen Oper über den Verlauf der Vorstellung berichten. In einer Pressekonferenz kurz vor der Premiere hatte Mascagni für einige Aufregung gesorgt, als er, scheinbar nur auf den Titelhelden seiner neuen Oper bezogen, den Satz äußerte: „Wozu würde die Macht wohl dienen, wenn man sie nicht mißbrauchen würde?“ Obwohl die Presse, nicht ohne Rücksicht auf Mussolini, die Oper lobte, wurde gerade auf faschistischer Seite auch Kritik laut. 'Il regime fascista‘ vom 17.Januar 1935 fand den Titelhelden denkbar ungeeignet als Träger römischer Größe und heroischer italianita. Tatsächlich war Nerone alles andere als eine faschistische Oper und vielmehr eine illusionslose Abrechnung mit der Korrumpierung durch die Macht.
Tod und Verschweigen - Wiederentdeckung
Am 2.August 1945 starb Pietro Mascagni weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit in dem Hotel in Rom, in dem er seine letzten Jahre verbracht hatte. Einer von offizieller Seite nahezu boykottierten Beerdigung in Rom folgte 1951 die Überführung der sterblichen Reste des letzten großen Opernkomponisten Italiens nach Livorno. Dort, in seiner Heimatstadt, wurde auch seine unbekannteren Werke immer wieder gespielt. Ansonsten scheute man in Italien die Auseinandersetzung mit Mascagnis Musik. Die politische Begründung für dieses Verschweigen, Mascagnis Kollaboration mit den Faschisten, will in dieser Hinsicht nicht so recht überzeugen, da dieser Vorwurf ungefähr jedem italienischen Komponisten der 20er und 30er Jahre, vom früh verstorbenen Puccini bis Pizzetti und Malipiero gemacht werden könnte. Vielmehr dürften das nachlassende Interesse an der italienischen Oper der Jahrhundertwende, die bedauerlicherweise immer noch mit dem zum Teil falschen, auf jeden Fall zu sehr einengenden Etikett des Verismo belegt wird, und die bis heute nicht abgeschlossene Wiederentdeckung der italienischen romantischen Oper vor Verdi zur Vernachlässigung beigetragen haben.
Die immensen Schwierigkeiten bei der Bühnenrealisierung von Mascagnis Hauptwerken in Fragen der Besetzung (vor allem der zentralen Tenorpartien), die orchestralen Vertracktheiten und der szenische Aufwand könnten ein weiterer Grund sein. Erst in den letzten Jahren scheint sich eine Wende anzubahnen: Konzertante Aufführungen von Isabeau, Amica und Nerone in Utrecht und gleich mehrere sehr erfolgreiche Inszenierungen von L'amico Fritz, Iris, Zanetto, Le Maschere und der elegischen Operette Si in Italien deuten darauf genauso hin wie eine neue Gesamtausgabe, das Erscheinen einiger Biographien und die Eröffnung eines Mascagni-Museums in Livorno, das außerdem 1989 zum erstenmal einen Mascagni-Gesangswettbewerb für junge Sänger ins Leben gerufen hat.
Privater Epilog
Im Sommer 1987 besuchte ich zum erstenmal Livorno, eine aus unverständlichen Gründen von Touristen eher gemiedene, wunderbar großräumig angelegte Hafenstadt. Da ein Museo Mascagnano im Telefonbuch nicht zu finden war, fragte ich beim Städtischen Fremdenverkehrsamt nach und rief mit dieser Frage eine große Aufregung hervor. Schließlich erschien, aus einem weit entfernten Raum, eine fast zu Tränen gerührte Dame mittleren Alters: „Ja, ja ...Mascagni...die Livorneser haben ihn vergessen...da müssen erst Ausländer kommen, damit wir des größten Sohnes unserer Stadt gedenken. Selbstverständlich ist das Museum noch nicht fertig...was könnte man anderes in Livorno erwarten... Jaja, ein Jammer, eine Tragödie!“ Ich könnte es freilich mal beim seit Jahren geschlossenen Teatro Goldoni versuchen, da gäbe es eine Art Museum im Anbau... Und wie ich da denn wohl reinkäme? „Einfach klingeln.“ Bei einem geschlossenen Theater? „Doch, doch...“ Nun tatsächlich weinend schenkte sie mir zwei außerordentlich seltene Plakate von Mascagni-Aufführungen in Livorno in den frühen 50er Jahren und einen womöglich noch selteneren Aufsatz, als Belohnung für eine solche Treue zu Mascagni... Selbstverständlich nutzte das Klingeln beim Theater nichts, es war ja schließlich geschlossen. Ein freundlicher alter Herr beobachtete meine Klingel- und Klopfversuche amüsiert. Er stellte sich als Sizilianer heraus und als ich ihm mein Problem schilderte, mußte er laut loslachen. „Was, das Museum soll hier sein?! Keine Spur, es ist in der Villa Maria, die gehört der Stadt.“ Aber ich käme doch gerade vom Städtischen Fremdenverkehrsamt... Das, so meinte er, wäre typisch livornesisch, viel reden, aber nichts wissen... Ein zweiter alter Herr gesellte sich dazu, der frühere Portier des Theaters. „Das Museum? In der Villa Maria natürlich.“ Aber das Theater könnte ich mir gerne ansehen. Ein herrliches Logentheater, halb renoviert, das Geld ist ausgegangen. „Typisch livornesisch, Klagen und Jammern, aber nichts tun, jaja...“ Und in der Villa Maria war dann tatsächlich das Museo Mascagnano, schöne, auf den Park gehende Räume, eine phantastische Sammlung und sogar ein Katalog, herausgegeben von der Comune di Livorno...
Bibliographisches/Diskographisches:
Die beste zur Zeit erhältliche Biographie Mascagnis stammt von Roberto Iovino: Mascagni, L'avventuroso dell'opera, Camunia Editrice, Milano 1987, 30.000 Lire. Eine deutschsprachige Biographie existiert bis heute nicht.
Von den unzähligen Gesamtaufnahmen der Cavalleria kann zumindest jene unter der Leitung des Komponisten (Cetra) Authentizität beanspruchen. Das gilt gleichermaßen für die vom Komponisten geleitete Gesamtaufnahme von L'amico Fritz (Cetra). In diesem Fall kann freilich auch die klanglich natürlich bedeutend bessere Aufnahme unter Gianandrea Gavazzeni (EMI) empfohlen werden, obwohl Luciano Pavarotti mit Ferruccio Tagliavini nicht mithalten kann. Eine erste Studiogesamtaufnahme von Iris mit Pacido Domingo unter Lamberto Gardelli ist bei Hungaroton erschienen. Besonders empfehlenswert sind Privatmitschnitte mit Magda Olivero in der Titelpartie, die bei verschiedenen Firmen erschienen sind, und ein Cetra-Mitschnitt mit Clara Petrella und Giuseppe di Stefano. In den letzten Jahren hat sich die Bologneser Firma Bongiovanni in Sachen Mascagni besonders hervorgetan: Sie veröffentlichte, zum Teil auch auf CD, Gesamtaufnahmen von Zanetto, Si und Nerone, allesamt Live-Mitschnitte von beachtlicher Qualität. Ein Live-Mitschnitt von der frühen Oper Guglielmo Ratcliff gibt es unter anderem bei Cetra, Gesamtaufnahmen der Oper Silvano, Le maschere, Isabeau, Parisina und Lodoletta gab es bei der Privatfirma MRF und sind wohl nur noch antiquarisch aufzutreiben, während Cetra schließlich lange Zeit eine Gesamtaufnahme von Il piccolo Marat angeboten hat. Fragmente aus I Rantzau (Florenz 1892) veröffentlichte der römische TIMA-Club, der gleichfalls eine hervorragende Doppel-LP, Dirige Pietro Mascagni (Tima 51/52), herausbrachte. Alle Mascagni-Aufnahmen Bernardo de Muros finden sich, neben vielen anderen, in der Vier-Platten -Kassette Bernardo de Muro bei Bongiovanni.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen