: Die letzten Minuten der DDR
■ Ost-Berlin: Das Ende der DDR feierten Zehntausende wie eine Silvesterparty
22 Uhr am Samstag abend in den Straßen Ost-Berlins: Wo ist die DDR? Der Stadtbezirk Prenzlauer Berg ist wie ausgestorben, die meisten Fenster sind dunkel. Nur kurz unterbricht ein Schrei die Stille - Salvatore Schilliaci hat im fernen Rom das Siegestor für Italien geschossen. Kurz vor ihrem Ende scheint sich die DDR noch einmal auf ihren Begriff bringen zu wollen: Langeweile.
Auch in der Innenstadt ist es so ruhig wie seit Wochen nicht mehr. Der Alexanderplatz, bisher Schauplatz lebhaften Schwarzhandels, gähnt die wenigen Besucher so weit und leer an wie vor dem Fall der Mauer: eine einzige ästhetische Beleidigung, ein stadtplanerisches Desaster, jetzt allein bevölkert von Straßenkehrmaschinen und Müllastern - nach der Zusage der Stadt, ihren Lohn um ein Drittel zu erhöhen, sind die bis Freitag streikenden Müllmänner an ihre Arbeit zurückgekehrt. Ordentliche Deutsche, die sie nunmal sind, schuften sie noch am Samstag abend, um die DDR besenrein zu übergeben. Sorgfältig fegt ein junger Blonder in den orangenen Müllmännerhosen die verwinkeltsten Ecken am Centrum-Kaufhaus noch mit dem Handbesen aus.
Wenige Flaneure streichen um die Schaufenster des Konsum -Quaders, bestaunen italienische Markenschuhe, die bereits wie in jeder x-beliebigen Einkaufspassage von Düsseldorf oder Bad Harzburg präsentiert werden: Preis, zwischen 130 und 180 Mark. Ost oder West? Das spielt jetzt keine Rolle mehr - nur noch zwei Stunden, und die DDR war.
Auf der anderen Seite des Alexanderplatzes wird der letzte Ostmark-Rausch gefeiert. Einer verkauft Radeberger Pils aus dem Karton wie warme Semmeln, die Kundschaft hängt auf den Parkbänken zwischen ganzen Batterien von Flaschen. „Sieg Heil und gute Laune“ hat einer auf die Betonsäulen geschmiert, auf die ihr Blick fällt.
22 Uhr 30. Wie von einem unsichtbaren Faden gezogen, bewegen sich jetzt kleinere Gruppen über den Alex und nähern sich langsam dem Objekt der Begierde. Einer zeigt verstohlen auf die andere Straßenseite: Die „Deutsche Bank - Staatsbank der Deutschen Demokratischen Republik“ residiert dort jetzt. Nicht nur hier können DDR-Bürger ihr Geld eintauschen. Aber die Deutsche Bank öffnet als erste ihre Schalter, Sparkasse und andere ziehen erst heute früh nach.
Hinter den verschlossenen Glastüren werden dort die letzten Werbeplakate aufgehängt, alles glänzt und blitzt, viel Glas und noch mehr Chrom sorgen für ein hell strahlendes Ambiente.
Dafür aber haben diejenigen, die sich in dieser schwülen Sommernacht dort einfinden, kein Auge. In Viererreihen stellen sie sich hintereinander auf - erst einige hundert Personen, dann einige hundert Meter lang, um Mitternacht wird die Schlange etwa einen Kilometer lang sein. Die DDR -Bürger zeigen ihre ganze Klasse im Schlangestehen. Ruhig und diszipliniert stehen sie an, die Routiniers sitzen auf mitgebrachten Klappstühlchen und Gartenmöbeln. Einige tragen Blumensträuße - kleines Dankeschön für die Angestellten der Deutschen Bank, die in dieser Nacht Dienst schieben.
23 Uhr: Das Ende der Schlange befindet sich jetzt längst auf der anderen Seite des Straßengevierts, vor den Türen der DDR-Nachrichtenagentur 'adn‘. Wieviele Stunden man von hier aus noch braucht, um das Westgeld ausgehändigt zu bekommen, scheint egal: „Ich habe in der Woche halt keine Zeit, Spatzl“, antwortet eine junge Ostberlinerin auf die Fragen der West-Reporter, warum sie denn ausgerechnet und um Gottes willen jetzt anstünde. Und: „Am Dienstag kommen die Handwerker, die muß ich schließlich bezahlen - ich habe kein Westgeld mehr.“ Eine andere Frau will Mitte der Woche in den Urlaub fahren.
23.15 Uhr: Mit krächzendem Megaphon warnt die Volkspolizei vor Taschendieben - in der letzten halben Stunde habe es mehrere Diebstahlshandlungen gegeben. Am Eingang zur Bank ist die Absperrung, eine lächerliche Plastikschnur, von den Reportern, Fotografen und Schaulustigen längst niedergetrampelt worden, die Menge wogt hin und her. Wie ein Fels in der Brandung steht Konrad Weiß, Abgeordneter des Bündnis 90, und antwortet geduldig auf die immergleichen Fragen, was er denn mit der ersten D-Mark zu kaufen gedenke.
23.24 Uhr: „Gibt's hier Bananen?“, ruft einer im Anblick der Schlange. Er ist der letzte mit guter Laune: Nervöse Aggressivität greift um sich. „Ihr Schmierfinken, geht doch nach Hause!“, schreien einige Kerle die Reporter an, die sich mit ihnen um die vordersten Plätze balgen.
23.30 Uhr: Ein Laster der völlig überforderten Volkspolizei sperrt den Weg zur Bank wenigstens zur einen Seite ab. „Passen Sie bloß auf“, warnt ein besorgter DDR-Bürger, dem man die allabendlichen Huldigungen des DDR-Bieres ansieht. „Wenn jetzt die Chaoten kommen... hat man doch wieder im Fernsehen gesehen, was in Hamburg los war, die sind doch gegen alles, auch gegen das Geld.“
23.45 Uhr: Der Vopo-Laster hängt voller Reporter, die Luft unter dem Bank-Vordach wird knapp. „Komm, wir gehen jetzt, die sind doch alle verrückt hier“, schiebt eine besorgte DDR -Frau ihre Freundin aus der Menge.
23.53 Uhr: Verzweifelte Schreie vor der Tür der Bank: „Drückt doch nicht so, geht zurück!“ Auch der Pressesprecher der Bank, der sich per Megafon der Volkspolizei an die „sehr verehrten Damen und Herren“ in der Menge richtet, bittet vergeblich um Disziplin: „Wir haben genügend Geld hier.“
23.58 Uhr: Sirenen heulen auf - „wir haben hier einen Notfall, bitten gehen Sie von der Straße.“ „Oh yeah! I wonna be in the party“, quetscht sich ein amerikanischer Reporter Richtung Eingang.
23.59 Uhr: Der Lärmpegel steigt bis zum Anschlag. Manche zählen mit: Zehn, neun, acht...
00.00 Uhr: Feuerwerk. Böller. Sektkorken. Autohupen. Fahnenschwenken. Der Beschwörungsreigen vor der Bank hat geholfen, die Tür ist aufgegangen. Die ersten stürmen die Treppe hoch. Atemberaubendes Gequetsche.
Taumel auf dem Alexanderplatz. „So ein Tag, so wunderschön wie heute...“ Doch die Begeisterung ist keine jubelnde, leichte, wie bei Silvester, sondern eine hysterische - hier wird untergründige Angst weggeschrien und die Tabula Rasa bejubelt, die Schluß macht mit der anstrengenden Vergangenheit. Sinnlos fetzt ein junger Mann Plakate von der Weltzeituhr, als gelte es, damit den letzten Rest DDR zu vernichten.
10.00 Uhr, Sonntag morgen: It's all over now, baby blue, der Kapitalismus hat gesiegt. Ein Meer von Glasscherben vor der Tür der DEUTSCHEN BANK, zerdrückte COCA- und FANTA -Büchsen auf der Erde, leere CLUB- und MARLBORO-Schachteln. Ein Glaser setzt neue Scheiben in die gegen ein Uhr vollends eingedrückte Tür, ein Verkäufer hockt wie im Sprung neben einem Stapel 'BILD‘ und 'NEUE REVUE‘. Bis neun Uhr stand die Schlange vor der Deutschen Bank, jetzt muß keiner mehr warten, die Abfertigung geht in neuem zügigen Tempo voran.
Axel Kintzinger/Ute Scheub
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