: Atombombe als letzter Ausweg
■ In London verabschiedeten die Staats- und Regierungschefs der 16 Nato-Staaten eine "Erklärung über eine gewandelte Nordatlantische Allianz". Die Doktrin der "flexible response" wird abgeschwächt
Nato-Gipfel weicht Doktrin auf:
In London verabschiedeten die Staats- und Regierungschefs der 16 Nato-Staaten eine „Erklärung über eine gewandelte Nordatlantische Allianz“. Die Doktrin der „flexible response“ wird abgeschwächt.
Von Jürgen Gottschlich
Mit eisigem Gesicht und einem völlig abgekämpften Genscher im Schlepptau marschierte Kanzler Kohl zu einer abschließenden Pressekonferenz auf dem Nato-Gipfel in London. Wie weggewischt war die aufgeräumte Stimmung der Bundesdeutschen vom Vorabend, es sah aus, als verließe bereits die geschlagene deutsche Fußballmannschaft den Rasen in Rom. Der „Skandal“ hatte unter den Presseleuten bereits die Runde gemacht: Die Nato hatte die Bundesregierung in der Frage der Truppenobergrenze in Europa im Regen stehen lassen. Die Deutschen müssen in den sauren Apfel beißen und im Vorfeld allgemeiner Truppenbegrenzungsverhandlungen isoliert eine verbindliche Zahl für die Größe der zukünftigen gesamtdeutschen Armee auf den Tisch legen, wenn sie nicht den gesamten Vereinigungszeitplan ins Rutschen bringen wollen.
Dabei hatte alles so friedlich und harmonisch begonnen. Nato, to be or not to be, that is here the question, hieß es in London, und alle, alle waren sich einig. Historische Situationen erfordern angemessene Fragestellungen, vor allem dann, wenn die Antwort bereits vorher klar ist. Der Nato-Gipfel im Zentrum des alten London, so beteuerten die Staats- und Regierungschefs aus den 16 Mitgliedsländern unentwegt, habe im 41. Jahr ihrer Existenz auf eine bislang beispiellose Situation zu reagieren. Im entscheidenden Punkt gab es keine Dissidenten: Der Bestand des Bündnisses, da kann in der Sowjetunion passieren, was will, darf nicht gefährdet werden. Um nur ja keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen, ging der Kanzler der Westdeutschen, wie Kohl hier penibel tituliert wird, gleich in seiner Eröffnungsrede aufs Ganze: Die Nato sei für die Deutschen existentiell, ein Austritt aus dem Bündnis unter gar keinen Umständen denkbar.
Kein Zweifel, die Deutschen standen auf dem Gipfel im Mittelpunkt des Interesses. Sogar die massive Intervention Kohls war denn auch vor allem als Klarstellung gegenüber seinem eigenen Außenminister gedacht, der in Nato-Kreisen traditionell als Gorbatschow-Fan verdächtigt wird und angeblich im Vorfeld des Gipfels nicht deutlich genug gemacht habe, daß die KSZE als Ersatz für die Nato nicht in Frage komme. Damit wurden Genscher, der seit Wochen von den kommenden „bündnisüberwölbenden Strukturen europäischer Sicherheit“ redet, erst einmal seine Grenzen gezeigt. Allerdings trug er es mit Fassung, und selbst sein Sprecher versuchte in Journalistengesprächen weiterhin Optimismus zu verbreiten. Charakteristisch dafür waren die sogenannten Briefings durch die deutsche Delegation. Da die Berichterstatter auf dem Gipfel weitab vom eigentlichen Geschehen in Lancaster im wahrsten Sinne des Wortes nichts mitbekamen, veranstalteten die einzelnen Delegationen nach den Sitzungsperioden Pressegespräche, um ihre Interpretationen des Verlaufs unters Volks zu bringen.
Mit Jonny Klein
in den Katakomben
Die Deutschen verschmähten bei diesen Gelegenheiten die offiziell dafür aufgebauten Container-Räume und luden statt dessen in die Katakomben. Über Schleichwege wurde der bundesdeutsche Pressetrupp in ein nahegelegenes Hotel geleitet, wo Kohl-Sprecher Klein tief unter der Erde empfing. Was dann folgte, war „information of it's best“, wie ein britischer Kollege die Vorstellung aufstöhnend kommentierte. Der deutsche Regierungssprecher wisse im Prinzip gar nichts. Das sei aber nicht seine Schuld, sondern ergebe sich schlicht aus der Arbeitsteilung des Gipfels. Bereits am Donnerstag mittag hatten sich die Außenminister zurückgezogen, um alle wirklich interessanten Fragen für das Abschlußkommunique unter sich zu diskutieren. Er, Klein, war dagegen an der Seite seines Kanzlers und berichtete nun über die Fensterreden der Regierungschefs. Glaubt man Klein, war dieser Gipfel eine einzige Glückwunschrede für Kohl. Belgien, Dänemark, Norwegen, die Niederlande: alle, aber auch alle hätten sich begeistert über den deutschen Vereinigungsprozeß geäußert und seinem Kanzler gratuliert. Kohl aber sei vor allem über die massive Unterstützung durch seinen Freund aus Washington begeistert.
Ob solch tiefschürfender Informationen avancierte denn auch eine Randbemerkung des US-Präsidenten zum Nachrichtenhit des ersten Tages. Die Nato, so wurde gestreut, werde dem Präsidenten der UdSSR, Michail Gorbatschow, persönlich einladen. Er, so wie die anderen Regierungschefs der Länder Osteuropas, soll die Ehre angetragen bekommen, vor dem Nato -Rat zu referieren. Ob zum nächten Gipfel der Allianz oder einfach zu einem Besuch des Hauptquartiers in Brüssel blieb unklar. Aber zumindest die britischen Abendzeitungen hatten ihre Headlines. Ob Gorbatschow sich als Preis für die deutsche Vereinigung mit einem Freiflug nach Brüssel zufriedengibt, war aber selbst in deutschen Delegationskreisen umstritten.
Zur Sache ging es dann erst in der Nacht von Donnerstag auf Freitag. Während die Außenminister sich noch an der US -amerikanischen Vorlage für das Schlußkommunique abarbeiteten, sickerten nach und nach die Konturen über die Antwort der Nato an Gorbatschow durch. Interessant waren vor allem die unterschiedlichen Nuancierungen der deutschen und amerikanischen Statements. Noch in Washington hatte Bush davon gesprochen, man könne demnächst die in Europa gelagerten Atomsprengköpfe kürzester Reichweite, die sogenannte nukleare Artillerie, abziehen. Dies sei, so sein Sprecher Fitzwater in London, allerdings an die Bedingung geknüpft, daß auch die Sowjets sich in dieser Frage bewegen. Die Deutschen wolten dagegen nicht von Bedingungen reden. Die Nato richtete einen dringenden Appell an Gorbatschow, seine taktischen Atomwaffen ebenfalls aus Osteuropa zurückzuziehen.
Durchgesetzt hat sich schließlich die amerikanische Position. Keine einseitigen Vorleistungen, sondern Abzug „aller nuklearen Artilleriegeschosse in Europa, wenn die Sowjetunion zu Gleichem bereit ist“. Um die Reform der Nato, die neue Nato für das 21. Jahrtausend, wie Bush meint, nicht nur auf die banale Frage der atomaren Artillerie zu reduzieren, hatten die Amerikaner noch ihre Formulierung vom Einsatz nuklearer Waffen „als allerletztes Mittel“ mitgebracht. Dahinter verbirgt sich die Nato-Doktrin der „flexible response“, die auch einen Ersteinsatz von Atomwaffen vorsieht, um einen konventionellen Angriff zu stoppen. Hatten die Bundesdeutschen im Vorfeld noch gehofft, man könne sich in London ausdrücklich davon verabschieden, so wurde sie schnell eines Schlechteren belehrt. Regierungssprecher Klein: „Das war doch das, was wir seit 40 Jahren sagen.“ Obwohl er damit die deutsche Zustimmung signalisieren wollte, denunzierte er Bushs Vorstoß ungewollt als reine Kosmetik. Damit Gorbatschow aber nicht völlig leer ausgeht, hat die Nato zumindest ein Bonbon im Gepäck: Man solle dem Warschauer Pakt, so Bush, ohne jeden geschichtlichen Hintersinn einen Nichtangriffspakt anbieten. Im inoffiziellen Kommunique, das die Deutschen bereits vor dem offiziellen Abschluß verbreiteten, heißt es dazu, Nato und Warschauer Pakt sollen feierlich bekunden, „daß wir uns nicht länger als Gegner betrachten und niemals und unter keinen Umständen als erste Gewalt anwenden“. Die Nato fordert alle KSZE-Staaten auf, „sich uns in dieser Verpflichtung zum Nichtangriff anzuschließen“. Kohl, so wird berichtet, sei darüber besonders erfreut gewesen. Im ürigen konzentriert sich die Nato auf die Zielvorstellung einer Reform, für die zwar noch kein Konzept vorliegt, aber dennoch ein breiter Konsens vorhanden ist: Die Allianz soll politisch auf- und militärisch abgewertet werden.
Die Sowjetunion hat diese Rolle eigentlich der KSZE als einer Institution jenseits der beiden Militärblöcke zugedacht. Doch die KSZE, so der Tenor in London, kann allenfalls komplementären Charakter zur Nato haben. Man ist einverstanden, der KSZE künftig einen stabileren politischen Rahmen zu geben, der regelmäßige Treffen auf höchster politischer Ebene festschreibt - doch mit welcher Funktion? Das, so meint man optimistisch, werde die Praxis zeigen. Als ihren Sieg werten die Bundesdeutschen die Entscheidung der Nato, zukünftig ein festes Sekretariat für die KSZE einzurichten, wobei die übrigen Nato-Mitglieder die Betonung auf kleines Sekretariat legen. Ein echter Erfolg dürfte dagegen der Vorschlag sein, ein permanentes KSZE-Zentrum für Konfliktverhütung einzurichten, um militärische Informationen auszutauschen, ungewöhnliche militärische Aktivitäten zu diskutieren sowie Streitigkeiten zwischen KSZE-Mitgliedsstaaten zu schlichten. Das ist weniger als Gorbatschow gehofft hatte, aber mehr als bei dem hinhaltenden Widerstand einiger Nato-Staaten zu erwarten war.
Wieviele deutsche Soldaten erträgt
die Welt?
Die Frage, die die Deutschen in London am meisten umtrieb, war allerdings eine andere. Was soll Kohl Gorbatschow am kommenden Samstag in Moskau erwidern, wenn dieser ihn nach der Obergrenze der zukünftigen gesamtdeutschen Streitkräfte fragen wird? Die Sowjets, daran haben sie selbst keinen Zweifel gelassen, werden ihre Zustimmung für die deutsche Vereinigung davon abhängig machen, daß eine konkrete Obergrenze festgelegt ist. Da die Deutschen dies auf keinen Fall als isolierte Frage diskutieren wollen, ging Genscher bereits seit zwei Wochen mit der Idee hausieren, noch bis zum KSZE-Gipfel im November eine Festlegung für die Obergrenzen aller Streitkräfte in Zentraleuropa zu treffen. In London spielten die Amerikaner in dieser Frage Katz und Maus. Während die Deutschen verkündeten, man sei sich einig, erzählte Fitzwater ungerührt, die europäischen Streitkräfte sollen in Wien II, also erst der kommenden Verhandlungsrunde, behandelt werden. Donnerstag nacht wurde diese Version von den Deutschen wieder dementiert. Es werde zwar jetzt keine Festlegung auf konkrete Zahlen geben, aber über das Prozedere sei man sich einig. Die schließlich gefundene Formulierung war dann ein schwerer Schlag von Bush und Thatcher gegen Kohl und Genscher. Der Sowjetunion wird vorgeschlagen, gleich nach Unterzeichnung eines ersten Vertrages in derselben Zusammensetzung über die Begrenzung „des Streitkräftepersonals in Europa“ zu verhandeln. An dem folgenden Satz wird Kohl allerdings schwer zu schlucken haben: „Im Sinne dieser Zielsetzung wird zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des (ersten) VKSE-Vertrages eine verbindliche Aussage zum Personalumfang der Streitkräfte eines vereinten Deutschlands gemacht.“ Damit haben die Verbündeten den Bundesdeutschen ein Verfahren aufs Auge gedrückt, das Kohl in jedem Fall verhindern wollte: eine isolierte Festlegung auf den Umfang der deutschen Streitkräfte. Entsprechend hoch gingen die Wellen der Empörung im bundesdeutschen Pressetroß bei der abschließenden Pressekonferenz mit Nato -Generalsekretär Wörner. Sooft er auch die Passage auf entsprechende Nachfragen noch einmal verlas, das Urteil bei den aufrechten Deutschen stand fest: Wer hat uns verraten? Die Allianzdemokraten.
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