: Wiederholungszwangsmaßnahme
■ Menschenmassenmangel bei Mahlers „Auferstehungssymphonie“ auf dem Todesstreifen
Endlich mal 1945 spielen! Hände in den Sand gesteckt, Füße im Staub gescharrt, Decken um die Schultern geschlungen, locker geschlottert und andächtig gestarrt - fast hätte man vergessen können, daß unsere Konzertsäle eben leider doch nicht zerbombt sind, fast hätte man hoffen können, dies sei das erste Konzert nach dem Weltuntergang, und wir alle wären Trümmerfrauen und Kriegsheimkehrer, ausgehungert nach Kultur, durch Nacht zum Licht, per Aspirin ad Astrachan etc.
Nur daß die paar tausend Wiederholungszwangsmaßnehmer - das waren nie und nimmer 30.000, wie die Veranstalter angaben -, die sich am Samstag abend wegen musikuntermahlerter Auferstehung in den Staub auf dem Todesstreifen über der Führerbunkeranlage zwischen Potsdamer Platz und Brandenburger Tor gegen 20 DM Erlebnisraummiete geworfen hatten, eben weder nach Kultur noch nach Kartoffeln hungerten, sondern gemütlich am Kebab nagten: Mami und Pappi auf beinlosen Strandklappstühlen, halb-doppelbreitwüchsiger Sechzehnjährer lümmelt an Mamis Knie, wo er - post vollendeter Kebabverschlingung - sogar rauchen darf, weil Mami jung-fett Richtigermann mag. Doch erst Zähne reinhauen in Kebab, und Schutzumschlag nicht streifen! Wo kein Butterbrot, da wenigstens Butterbrotpapier - nach zirka 162 Takten des ersten Satzes der Symphonie sieht das von der Seite aus, als ob Mami nur noch in diesen Papierknäuel beißt, aber manchmal zupft sie, mit bloßen Händen!, Fleischstück raus und füttert Bub damit: also doch noch Tier im Papier!
Alles, alles war für den Aufschwung des Grundguten veranstaltet worden: Der Westberliner Rumäne Liviu von Braha hatte zusammen mit dem Ostberliner Festtagsdirektor Karin Müller eine „Ost-West-Kulturstiftung“ aufgemacht, gutzwecks Förderung junger Künstler hier und dort und überall. Und die Veranstaltung am Samstag diente nicht nur der Inauguration der Stiftung, sondern auch der Kohlebeschaffung für ebendieselbe. Weshalb 80.000 sich hätten einen vorspielen lassen sollen, woraus ja leider nichts wurde.
Auch der geplante Promi-Auftrieb ließ stark zu wünschen übrig - die erhofften Wichtigkeiten aus Politik, Kultur und Wirtschaft waren ausgeblieben, und niemand weinte würdig zu dieser historio-symbolischen Stunde beim „1. Open Air am Potsdamer Platz“. Keine Zombies grüßten vom Gelände der Neuen Reichskanzlei, keine Leibstandarte Adolf Hitlers im soeben entdeckten, unter dem Gelände liegenden Bunker erhörte die Rufe der Sängerinnen Christa Ludwig und Sharon Sweet sowie der Doppelhundertschaft Choristen nach Auferstehung. Schade eigentlich. Dem schlappen Abend fehlte eindeutig die Authento-Grusel-Athmo, die er doch hätte haben können, sollen, dürfen.
Statt dessen kollektives Freifernsehen daheim - dank Sat 1 und dem Deutschen Dampffunk - und vor Ort, dank Videoleinwand. Auf dieser tauchte, nachdem man sich seit dem Nachmittag live auf Gummihüpfobjekten gelangweilt hatte und sich Turmbläser vorgruppenmäßig in die Ohren hatte dröhnen lassen müssen, der Maestro und Stiftungsehrenvorsitzende auf. Lorin Maazel sprach an in Sachen „Kraft, die endlich befreit ist, von den schweren Irrtümern der Vergangenheit“, „Rehabilitation einer Stadt“, „Öfen der Gier und des Zynismus“, „Freude der Berliner, wieder mit ihren Brüdern vereint zu sein“, faselte „mitten auf dem Schutt einer schändlichen Barriere“ und was des unsäglichen Geschichtsentsorgungsgeblubbers mehr ist, das sein Ungeist -Writer ihm da in den Mund gelegt hatte.
Und sieh an: Gerade war er noch im Fernseher, und da war er auch schon höchst live und in weißer Kellnerjacke auf der Bühne daneben, also dem Fußballstadion, in dem nicht nur 400 Musiker aus diversesten Orchestern zusammengepfercht waren, sondern die Bandenwerbung rund-rund-um auch das sofortige „Come together“, sonst raucht's! (und zwar Peter Stuyvesant) befahl.
Und dann endlich: satter Telefon-Sound aus den Boxen, deren Brummen gar nicht störte, weil so viele Flugzeuge drüber flogen, kleine Light-show mit heller und dunkler werdenden Scheinwerfern ab dem zwoten Satz, und schließlich konnte, wer Glück und vor allem ein ebensolches Fernsehgesicht hatte, sich selbst auf der Videoleinwand zuwinken - denn wir durften ja bis zum Schluß weiter mitfernseh'n.
Indessen lockte von Ferne das nächste Perverso-Spektakel am übernächsten Samstag in Form von noch viel größeren Stahlkonstruktionen und von div. Abendwolkenkratzer -Baukrähnen. Rein PR-halber hatte man auch schon einige bunte Lampen dortselbst installiert, die man nach dem letzten Ton der Klassik-Konkurrenz anknipste und damit verschiedene Pappmusiker illuminierte, von wegen Vorgeschmack auf bzw. Vorverkauf für Roger Waters‘ „The Wall“. Dazu die Altistin Christa Ludwig im zweiten Satz: „Der Mensch lebt in größter Not!“
Gabriele Riedle
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