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Nagelprobe für Albaniens Reformer

■ Für die Flüchtlinge in den ausländischen Vertretungen Tiranas scheint eine Lösung in Sicht. Die Ankündigung der Regierung, den Botschaftsflüchtlingen Reisepässe und Ausreisevisa auszustellen, wurde in den Straßen der Hauptstadt mit Jubel begrüßt. Offenbar unter dem Druck wachsender Unzufriedenheit in der Bevölkerung hat Staats- und Parteichef Ramiz Alia sein Kabinett umgebildet.

Die Versorgungslage in den Botschaften Tiranas ist prekär

In den ausländischen Botschaften in Tirana ist die Lage am Sonntag - auch nach der Zusage der Regierung, allen Botschaftsflüchtlingen die Ausreise zu genehmigen „unerträglich“ geworden. Etwa 5.000 Menschen sollen sich zur Zeit in den Vertretungen von Griechenland (30), Frankreich (550), der Bundesrepublik (3.000), Italien (1.000), Türkei (55), Ungarn (40) und der CSFR (50) aufhalten. Um einen neuen Ansturm zu verhindern, hat die Armee das Botschaftsviertel abgeschirmt. Die Situation in den Botschaften selbst wird immer dramatischer. Zwar kann die Vertretung der Bundesrepublik die Versorgung noch sicherstellen. Weil aber die Behörden nach wie vor die Landeerlaubnis für ein Flugzeug mit Hilfsgütern verweigern, werden Lebens- und Arzneimittel knapp, so ein Sprecher des Auswärtigen Amtes in Bonn. Es sei aber nicht nur eine Frage der Versorgung mit Nahrungsmitteln; auch drohe die Gefahr von Erkrankungen und Seuchen. Dazu komme die begrenzte Wasserversorgung. Außenminister Genscher sagte am Sonntag in einem Interview mit dem Hessischen Rundfunk, es gehe darum, „die albanische Führung davon zu überzeugen, die Ausreise dieser Menschen, die woanders eine Zukunft suchen, schnellstens zu genehmigen“. Wie das Auswärtige Amt bestätigte, wurde in der deutschen Mission in der Nacht zum Sonntag das erste „Flüchtlingsbaby“ geboren.

Die Ausreisewilligen

sind mißtrauisch

Die ungarische, die griechische und die italienische Botschaft hatten am Samstag abend bestätigt, ihnen sei von der albanischen Führung versichert worden, daß alle Ausreiswilligen einen Paß bekämen. Weil aber zahlreiche Menschen nicht lesen und schreiben könnten und das Botschaftspersonal zu knapp für die Hilfe von so vielen Personen sei, werde es vermutlich Verzögerungen geben, sagte der Botschafter Griechenlands, Spyros Dakianos.

Die Entscheidung zu einer schnellen Regelung der Krise war am Samstag vom Präsidium der albanischen Volksversammlung getroffen und den Botschaftern im Außenministerium mitgeteilt worden. Das berichtete die ungarische Nachrichtenagentur 'mti‘ unter Berufung auf den ungarischen Konsul in der albanischen Hauptstadt, Karoly Loincsek. Der Beschluß trete sofort in Kraft und garantiere allen Flüchtlingen einen Reisepaß sowie die Zusage, daß sie nicht bestraft würden. Das Mißtrauen der Flüchtlinge ist aber offenbar so groß, daß die Antragsformulare für Pässe nach neuesten Angaben von den Behörden in die ausländischen Botschaften gebracht werden sollen. Die notwendigen Fotos würden dann vor Ort gemacht. Die Formulare sollten laut 'mti‘ dann von Botschaftsangehörigen zurückgebracht werden, die auch autorisiert seien, die Flüchtlinge beim Abholen der Pässe zu begleiten. Die Ausreisewilligen könnten dann in die Botschaft zurückkehren, in der sie Zuflucht gesucht hätten, und dort auf die Visa der Länder warten, in die sie ausreisen wollten.

Nur wenige Stunden nach Bekanntgabe des Beschlusses hatte der albanische Staats- und Parteichef Ramiz Alia die „Einmischung“ anderer Staaten in die inneren Angelegenheiten seines Landes angeprangert. In einer vom staatlichen Fernsehen übertragenen Rede erklärte Alia, daß die Botschaften, die die Flüchtlinge zurückhielten, unnötige Spannungen provozierten. „Albanien ist kein Land, dem man nach Belieben seinen Willen aufzwingen kann“, so Alia, „es gibt bestimmte Kräfte im Innern und von außen, die entschlossen sind, Albanien in einen Abgrund ohne Perspektive zu stürzen.“

In der Innenstadt von Tirana versammelten sich indes am Samstag abend erneut Tausende, um mit Schweigemärschen gegen die Politik des Regimes und die brutalen Polizeieinsätze zu protestieren. Am Freitag abend war in Tirana die Polizei nach Berichten des Korrespondenten der österreichischen Nachrichtenagentur 'apa‘, der als einer der wenigen in Albanien arbeiten kann, mit Schlagstöcken gegen rund 10.000 Menschen vorgegangen, die gegen das kommunistische Regime demonstrierten. Der Korrespondent berichtete, die Polizisten hätten einen nervösen Eindruck gemacht und bei der geringsten Provokation zugeschlagen.

Umbesetzungen in den

Führungsgremien

Samstag abend hatte die albanische Führung offenbar als Reaktion auf die Flüchtlingswelle mehrere Personen in Staats - und Parteiämtern ausgetauscht oder in den Ruhestand geschickt. Der 'apa'-Korrespondent berichtete unter Berufung auf eine Meldung des albanischen Rundfunks, die Führung des Landes habe die Ablösung von Polizeiminister Simon Stefani und Verteidigungsminister Prokop Mura beschlossen. Außerdem wurden den Angaben zufolge die orthodoxen Politbüromitglieder Rita Marko und Manush Myftiu in den Ruhestand entlassen. Lenka Cuko sei aus dem Politbüro ausgeschlossen worden und jetzt Parteichefin der Stadt Fier. Zum neuen Polizeiminister und stellvertretenden Ministerpräsidenten wurde Hekuran Isaj bestellt. Neuer Verteidigungsminister wurde Kiquo Mustaqui. Ins Politbüro neu aufgenommen worden sind Xhelil Gjoni, derzeit Exekutivsekretär des Zentralkomitees der Partei, und Vangjel Cerava Abdyl Backa, der auch zum ZK-Sekretär ernannt worden sei. Xhemail Dimilja und Niko Gjyzari wurden den Angaben zufolge Politbürokandidaten.

afp/taz

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