: Ole, Oleoleoleee: Glasbruch für Deutschland
■ Völler fiel auf die Nase und Bremen feierte eine rauschende Fußballnacht / Polizei: kriminalstatistisch nichts Besonderes
hier bitte das FOto
mit den Fernsehguckern
Im Cafe Sand guckt die Szene in Es war wohl die größte Spontandemo, die Bremen in den letzten Jahren gesehen hat, dezentral über die ganze Stadt verteilt, mit eindeutigem Schwerpunkt in Stein- und Ostertor und um den Roland herum. Die Parolen waren denkbar einfach: „Ole, Oleoleoleee.“ und „Tütüt, dööödöööt“ und „tutut.“ Und die Transparente vermeldeten nur eins: Schwarz - Rot Gold.
„So nicht. So will ich nicht Weltmeister werden“, hatte der Kollege zwar noch genölt, als Rudiiie sich in der 85. Minute auf die Nase gelegt hatte und der Schiedsrichter auf den Elfmeterpunkt zeigte. „So nicht.“ Aber in Ermangelung eines eigentlich verdienten 5:0 Sieges über Maradona & Co mußte es dann halt ein Elfmetersieg sein. Was soll's: Wir sind Weltmeister, und wenn es denn eine Fußball-Gerechtig die Röhre Foto: Holger Blöhte keit auf diesem Globus gibt, dann diese. Die Besten haben gewonnen, und das ist doch schön.
Und während unsre Jungs noch über den römischen Rasen siegestaumeln, und Franz B. durch Dauerhüpfen zeigt, daß sein Spruch, die Weltmeisterschaft habe für ihn „persönlich keine Bedeutung“, dummes Geschwätz von gestern war, hebt auf dem Osterdeich langsam das Getute an.
Irgendwie muß es sich in den letzten vier Wochen von Neapel nach Bremen 'rumgesprochen haben, daß italienische Fans ihre Siege mit der Autohupe zu feiern pflegen. Zuerst tönt es noch vereinzelt. Doch solcherlei Ordnungswidrigkeit verleitet hörbar zum Nach- und Mitmachen.
Eine Stunde nach dem Spiel geht zwischen Stein- und Ostertor nichts mehr. Nur einzeln werden die tutenden Autos über die Sielwallkreuzung gelassen. Zwischendurch toben für wenige Sekunden eine gute Handvoll Hooligans Bierdosen werfend über die Kreuzung. Ein anderer macht seinem Unmut über chauvinistische Aufwallungen durch das Ver
brennen einer Flagge deutlich. Pfeifkonzert.
Bis zwei Uhr in der Nacht sitzt die Szene vor dem Piano wie im Kino. Nebenan freuen sich ausländische Einwanderer über den klassenlosen Taumel: „Deutschland, Deutschland“ rufen zwei Türken. Italia-Flagge schwingende Italiener und Afrikaner im Trikot der deutschen Mannschaft werden abgeknutscht. Auf dem einzigen Trabi voller fassungsloser Ostdeutscher wird begeistert 'rumgehämmert: „Heim ins Reich, auch ihr seid Weltmeister,“ brüllt einer.
Junge Männer strecken sich und die Fahnenstangen aus allen Öffnungen der Gefährte und joh
len im Hup-Gedröhne. Enten, Siebziger-Jahre-Schüsseln, Polos, Golfs, Tropen-Jeeps und die gedrungenen Geschosse der bayerischen Motorwerke werden zur Quadriga: Hauben und Kühler aller Preisklasse sind an diesem „Tag, so wunderschön wie heute“ nicht zu schade für Schuhe und Fäuste des Volkes.
Cliquen strömen zum Marktplatz und bevölkern ihn binnen einer halben Stunde zu achtzig Prozent mit jungen Männern. Sekttaufen, Kreishüpfen, Siegerpolka, Ausziehen, In-die -Fahne-wickeln und Gipfelstürmen: Der Roland, Fahnenmasten, sogar die Rathauszinnen werden von Schwarzrotgold-Schwenkern be
stiegen. Ohrenbetäubender Jubel. „Mensch äj, Bremen flippt aus, Bremen flippt aus, äj, ich halt's nicht aus,“ stöhnt einer. Und inmitten des Trubels brennt ein selbstgebastelter Sarg mit der Aufschrift „Argentina“.
Und was hat die Polizei zu alledem zu vermelden? Ausgelassene Stimmung, aber rein kriminalstatistisch gesehen keine besonderen Vorkommnisse. „Randale gab es nicht.“ Unangenehme Folgewirkung hat der Weltmeister-Titel nur für den ein oder anderen Radreifen: Zahlreiche Glassplitter von zerschlagenen Flaschen zieren am Ende der schwarz-rot -goldenen Nacht die Fuß- und Radwege.
hbk/gürt
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