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Ein deutsches Ökotrauma

■ „Rattenfänger“ vom Theaterhof Priessental

Selber schuld: so die traurige Moral von der Geschicht vom Rattenfänger von Hameln, der den Bürgern der Stadt zuerst die Rattenplage vom Hals schaffte und dann, weil die versprochene Bezahlung für den Dienst mit der Flöte ausblieb, ganz neue Töne anschlug. Denen folgten Hamelns Kinder gehorsam blindlings ins Nimmerwiedersehen. So ging der Stadt eine ganze Generation verloren, und schlechtes Gewissen plagt nun jedermann: Da wurde an der falschen Stelle gespart. Selber schuld.

Aber ganz so einfach ist die Geschichte in der stark moralisierenden Fassung des „Theaterhofs Priessental“, eines seit 1980 mit Zelt und Wagen durch die Lande reisenden Theaterkollektivs, das den ausgesprochenen Anspruch hat, „neues Volkstheater“ zu machen, dann doch nicht. Schuld an der Misere in Hameln hatte nämlich nicht der kleinbürgerliche Geiz der Bewohner, sondern, so wird uns gleich zu Beginn von zwei weib lichen Conferenciers zweisprachig - englisch und deutsch - mitgeteilt, die Sahara. Die These scheint interessant und das Ensemble fest entschlossen, den Beweis vorzuführen, wie man aus der mnouchkinesken Maskerade unschwer erkennen kann: In wallenden Wüstengewändern und bunten Turbanen empfängt uns die Gruppe. Trommeln und Flöten lassen die Welt von Tausendundeiner Nacht entstehen.

Doch der Zauber währt nicht lange. Schon bald reißen sich die Darsteller die orientalischen Schleier vom Leibe und zeigen, wo die deutsche Erziehung ihre üblen Wurzeln hat: nicht etwa im phantastisch-rätselhaften Arabien, sondern im dunkel-feuchten Grimmschen Märchenwald. Kniebundhosen, kurze Röckchen, rote Käppchen, allzu bekannt sind diese Gestalten, die in solchem Gewand daherkommen, als daß sie noch etwas Neues erzählen könnten. Und doch unternimmt die Gruppe den Versuch der Reaktualisierung deutschen Volksgutes, um zu zeigen, daß daraus nur Schlechtes wachsen kann. Im Schnelldurchlauf läßt man das Märchen vom Rattenfänger lieblos tänzerisch Revue passieren, um das vermeintlich Wesentliche dahinter sichtbar zu machen: Aus einer Bühnenversenkung taucht der Kopf eines Gauleiters auf und brüllt etwas von der „schönen starken Jugend“. Gewaltsam wird hier Märchenwelt und Vorkriegsrealität in einen Topf geschmissen, und der Untertitel der Veranstaltung erklärt warum: Rattenfänger . Ein deutsches Kindheitstrauma.

Gezeigt wird, wie sich aus einem unschuldigen Indianerspiel die Generation der BDM-Mädels und HJ-Jungens herausbildet. Die Familien- und Kinderszenen, die diese Entwicklung demonstrieren sollen, sind dabei weniger der Phantasie als vielmehr einem gnadenlos langweiligen Lehrbuch für Soziologie entsprungen. Fazit: Den Eltern nachplappernd, weil „gehorsam“ wie Hamelns Nachwuchs, versuchen die Kleinen in ihrem Indianerspiel das der Großen zu imitieren: „An den Marterpfahl mit der Judensau!“ Und schon bricht der Krieg aus.

Nach der Pause Szenenwechsel. Aus den kleinen Nazis sind nun Großindustrielle geworden. In der Nachkriegszeit pflanzen sie ihre stinkenden Schornsteine in den trauten Märchenwald von einst. Gleich die ganze Natur wird von ihnen mit imperialistischem Kriegsgeschrei an den Marterpfahl geknüpft. Völkermord und Umweltzerstörung, alles eins: Tanzend kämpft der Regenwurm mit der Ratte im windgeschüttelten Theaterzelt. So wie der Regenwurm sind auch die Kinder von heute gefährdet. Falsche Ernährung vergiftet sie. Statt mit „rechtsdrehenden Joghurts“ stopft man sie mit „Pommes“ voll, was sie um so mehr mit dem armen Wurm verbindet. Wie dieser, so ist auch die Kinderfigur „Fatti“ „zweigeschlechtlich“, weil er/sie „Titten“ hat vom vielen „Fressen“. Selbst das Indianerspiel von heute ist nicht mehr das, was es einmal war. Aus einem „Spiele-Set“ von Hertie packen die Kinder „Spielelement Nr.4“ aus: Das „Lagerfeuer“, jetzt batteriebetrieben, flackert unromantisch auf dem Spielplatz, der von vergifteten Bäumen umstellt ist. Einmal von deren grünen Blättern genascht, muß Judith dann auch fast ins Gras beißen, und alles sähe ganz hoffnungslos aus für die „lost generation“, wäre da nicht Judiths Mutter.

Engagiert gegen Altnazis und für Neger erschließt sich ihr ein neues Aufgabenfeld: Sie wird zur Öko-Märchentante und liest den Kindern etwas über ihren Freund, den Regenwurm, vor. So ist das also: Den Grimm raus aus dem Regal, rein mit dem Lehrbuch über Kompostierung, und schon wird die Welt wieder gut. - Der Abend bewies, wie sehr die Gruppe diesem neuen Märchen schon erlegen ist.

-sim

Bis zum 22.7. Mi. bis So. um 20 Uhr 30, Kollwitz-/Metzerstraße (U-Bahn Senefelder Platz).

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