: Wenn Männer schreiben
■ Schwer- und Leichtliteratur von Berliner Wortneulingen
„Wer die Schaumwelt beschreibt, sucht einen Ausweg aus ihr“, schreibt der Religionsphilosoph Klaus Heinrich. Männerschreiben „bietet einen Ausweg an, den viele gehen, die ihre kleinen oder großen oder abartigen Interessen haben oder auch nur das eine Interesse, diese alle verächtlich zu machen.„
Literaten nehmen ihr Hirnherzchen im Fernsehcafe Einstein aus der schützenden Klarsichtfolie und drücken es und werden befragt und antworten. Traurig oder wißbegierig sammeln sich anderswo ein paar Menschen um junge AutorInnen. Meist ist das ein bißchen peinlich. Gibt aber 300 Mark, wenn's gefördert ist.
Gegen diese Peinlichkeit versuchen unpeinliche Institutionen mit unpeinlichen Autoren anzugehen. Im „Ex und Pop“ in der Mansteinstraße liest Kiev Stingl. Der deutsche Mann (Stoert), der Altbeat als 49jähriger Glatzkopf, läßt sich immer noch oder nicht „b-r-digen“. Um zwei Uhr nachts sonort er nuschelig, doch versbewußt über einsame Männerwege, die regelmäßig in schwarzen Löchern resp. „Fotzen“ enden, da hebt er die Stimme. Und der Barkeeper als König der Nacht bittet um Ruhe „für das gesprochene Wort“, das als Beatlyrik vorbeiplätschert, weil versäumt wurde, den Dichter, der im Teekochen große Klasse sein soll, lautzustellen. Was schade ist. Im „Quartier“ hatte man den Dichter einfach sehr laut gestellt. Dann hatte es geklappt, war Äquivalent zur Beatmusik gewesen. Im Hinterzimmer des „Bierhimmels“ in der Oranienstraße liest Ex-Tödliche Doris -Wolfgang Müller, kaum angekündigt. Geheim-Gig um neun Uhr abends. Er beginnt pünktlich und hört schnell auf, damit ja kein normaler Zuspätkommer was mitkriegen kann. Und in den Altersheimen läßt Detlef Krenz, der Häuserkampfliteraturveteran, House-Literatur hören, was nicht so gut ankommt, oder Helmut Höge erzählt über dies und das und bringt Dias mit. Bombenerfolg! Wird vom Senat für Soziales gesponsert.
Verlassen liegen Bücher unbekannter Berliner Kleinverlage in der Berlin-Kultur-Redaktion auf dem Schreibtisch herum. Autoren, die keiner kennt, haben geschrieben. Männerbücher. Manchmal kommen sie vorbei: Man möge doch bitte lesen, was sie geschrieben haben. Das sei wirklich gut, sagen sie. Manchmal findet sich eine Erzählung mit besten Grüßen im Briefkasten. Da freut man sich.
Vier Bücher von Männern liegen auf dem Schreibtisch. Eines ist von Frank Schmidt (24), Dichter aus 36. Auf der ersten Seite seines Romans Die zweite Seite der Dunkelheit steht, daß dies geschrieben sei, „um dem Leben für alle Zeit einen neuen Maßstab zu geben“. „Kraft“ seiner „Gewalt und“ seines „Dranges“. („Indes quollen unzählige Gedanken aus dem Unterbewußtsein in die greifbare und erfaßbare Welt seiner Mentalität.“) In den Köpfen junger Männer, in den Zwischenräumen Kreuzbergs, Amsterdams, an den Stränden Griechenlands, in verschiedenen Kneipen auf 248 Seiten verbrüdern sich fröhlich „Neu-Rosen“ und ödipale Konflikte und weisen gemeinsam auf die Weltvorstellungen heterosexueller Männer, die nach dem Abitur in die Großstadt gehen, Männerleben leben in selbstbestimmt arbeitsarmen Zwischenräumen und machen das, was sich früher mal Selbstverwirklichung nannte. Und ich lese weiter, weiß nicht wozu; es ist eine Qual, kein Witz.
Das studentisch-debile Immergleiche passiert. Häufig ist von „Urzuständen“ die Rede. „DIESE FRAU“ (wirklich so hervorgehoben), staunt Frank Schmidt die Frau im Schaufenster an, „er wollte und MUSSTE sie aus diesem gläsernen Käfig befreien.“ „Das heilige Sakrament ihres Körpers“ will er „entweihen“. Später stillt er „seinen Durst“ „in ihrer weiblichen Quelle“ und setzt „auf dem Opfertisch der Nacht zum Todesstoß“ an, doch eigentlich geht es um Selbstmord. Bei 10.000 Selbstmorden in der BRD pro Jahr sicher ein wichtiges Thema. Schmidt verfehlt es kopfkitschmäßig traumhaft sicher: Ein junger Mann und eine junge Frau bringen sich ums Leben; der Freund der jungen Frau und die Freundin des jungen Mannes finden sich. Zufällig. Und am Ende gehen sie Hand in Hand am Strand in den autonomen Liebestod. Immerhin ist das Sonne-geht über-dem-Meer-unter-oder-auf-/ Pärchen-hält-dazu-Händchen-am-Strand-Motiv zeittypisch: Bei der revolutionären 1.-Mai-Kundgebung in Kreuzberg wurde vom Lautsprecherwagen aus dasselbe Bild zitiert. Nur gehen da zwei Menschen ins selbstbestimmte Leben.
„Das Buch läuft super“, schwärmt Verleger Frieling. „Es kommentiert, was in der Szene gedacht und gemacht wird.“
Wenn das so ist, ist „die Szene“ restlos verblödet. Hinter vergreisten apodiktischen Albernheiten, wie „wir wagen zu behaupten“, versteckt sich beispiellose Erlebnislosigkeit, die Unfähigkeit, auch nur irgendwas von dem wahrzunehmen, was außerhalb des eigenen Köpfchens passiert, gähnt aus jeder Zeile.
Einer, der viel erlebt hat und auch noch fähig ist, darüber zu berichten, ist Marcel Hermann; und es scheint einen Zusammenhang zu geben zwischen einem Leben, dem man ausgesetzt war als Opfer, und der Sprache, die dies Leben erzählt, um es vielleicht wieder ganz zu machen; einer Sprache, die es nicht nötig hat, sich bedeutsam aufzuplustern oder künstlich zu verzieren. Es ist nur leider meist so, daß dem, dem vieles zugestoßen ist, auch noch das Letzte, Widerlichste zustößt in Gestalt von wohlmeinenden SozialarbeiterInnen oder ChristInnen, die ihre Moral in die Geschichte des Autoren schreiben, um ihn so restlos zu enteignen. Seine Autobiographie Renegat - Hurensohn kündet Ursula Ulrichs folgendermaßen an: „Seine früheste Jugend verbrachte der Autor im Sumpf tiefster Verworfenheit„; sein Lebensweg trieb ihn in „widernatürliche Sexualität“. „Nach schwerem Kampf“ gelangte er „gegen sich zu der Erkenntnis, daß Homosexualität für ihn eine unnatürliche Form körperlicher Begegnung sei“. Ins Impressum hat sie oder wer auch immer „für JUGENDLICHE nicht geeignet“ geschrieben. Im Buch berichtet Hermann davon, wie die jungen Berufsschüler im Religionsunterricht den Paragraphen 175 auswendig lernen müssen. Es soll nur ja kein ungefestigt im Leben Stehender auf die Idee kommen, homosexuell zu werden.
Es geht um die Geschichte einer Kindheit in den Baracken des ehemaligen KZs Dachau, um den Sohn der Lagerhure, die den kleinen Jungen päderastischen Soldaten zur Verfügung stellt. Mutter und Stiefvater saufen, schreien, erschlagen manchmal fast den wehrlosen Markus. Früh gewöhnt der sich an Bier und Klebstoffschnüffeln. Vom Lager führt sein Weg in verschiedene Erziehungsheime, später in die schwule Subkultur. In einer sehr ruhigen, nie selbstmitleidigen Sprache, in kurzen, klaren Sätzen sind die Versuche des Jungen beschrieben, Liebe zu kriegen. Um Liebe zu kriegen, müssen kleine Jungs kindlichen Soldaten einen blasen.
Am anrührendsten sind die Passagen, die das Leben in den Erziehungsanstalten beschreiben, das „Herumschwulen“. Das wird zwar mit Peitschenhieben bestraft oder von den jungen Mitbewohnern sympathisch bigott sanktioniert, doch am nächsten Morgen wacht man mit geschlossenen Augen überrascht neben seinem Zimmergenossen auf.
Nach dem Heim landet Markus in der Münchener Sub. Dort fährt er seinen Freund an, „daß sein Herz kein Spielplatz für Sexabhängige sei“. Ausdrücke wie „Hosenschlitzjäger“ oder „Bratkartoffelverhältnisse“ fallen. Polymorph-perverse Sexpartner geben sich die Hand an den Ein- und Ausgängen merkwürdiger Wohnungen. Ihre sadistischen, masochistischen oder koprophilen Vorlieben, ihre Selbstmordgelüste werden nie intellektualisiert, sondern beschrieben als das, was sie sind: Liebesversuche. Und schwarze Kleidung gilt als Zeichen innerer Leere. Ein immer gültiger Satz führt den Helden am Ende nach Berlin: „Markus‘ Entschluß stand fest. Berlin war das Ziel.“
Und die Großstadt giert nach kleinformatigen Büchern, weil die Zeitungen zu groß sind, als daß man sie ungestört, in der U-Bahn stehend, lesen könnte. U-Bahnbücher folgen in ihrem einfachen Erzähltempo dem Paarminutentakt der Stationen. Als Prototyp des U-Bahnbuchs, paßt Marius Babias‘ Herbstnacht in jede Jackentasche. Auf 45 Seiten finden sich acht Geschichten, die an das eigene Verlassen der Wohnung anknüpfen, indem sie zurückgehen. Der Autor, junger Kunstkritiker, „lebt als freier Mitarbeiter der Stadtzeitung 'Zitty'“. Seine Geschichten spielen in den verschiedenen Wohnungen eines Mietshauses. In einer hört man noch das Stöhnen einer anderen. Geschichte oder Wohnung. Am Anfang fickt ein junger Mieter einen Nußpudding; am Ende steckt er seinen Schwanz in einen Rollbraten: „Zuerst was Süßes und nachher was Scharfes„; und nebenan haßt „Frau Schürle“ ihren Bruder dafür, daß er die Zimmer vollqualmt „wenn die Blumen eingehen, zahlst du sie“. Nur kurz schaut das Ich des Schreibenden aus dem Buch heraus: Eine Schriftstellerin sitzt in ihrem Zimmer und starrt auf die gegenüberliegende Straßenseite. „Was sie sah, hörte sie nicht, und was sie hörte, hatte kein Gesicht.“ In einer anderen Wohnung zerschlägt „Kober, der Säufer“, die Frau ohne Namen; „seine Fußspitze traf ihren Bauch und wühlte darin“. Die Frau wehrt sich. Fast komisch wird es, als sie schließlich mit seiner Krücke „durch seinen Unterleib hindurch bis auf die Matratze“ schlägt. „Die Krücke: AOK.“ Das gequälte Fleisch, das sich der Kopf vorstellt, spricht von den an ihm begangenen Mißhandlungen. Eingebaute kunsttheoretische Konstruktionen werden überschlagen, wie man einen Rollbraten fickt, ist auch danach nicht ganz klar (ausprobieren?). Jedenfalls dauert das Buch 40 Minuten und ist sehr unterhaltsam.
Reiner Matzger verlegt seine Erzählung Der Attraktor in die Jahre der Münchner Räterepublik und thematisiert „die Erlebnisse eines Zeitungsverlegers in den Jahren 1917-1919. Frei nach G. Landauer, R. Marut, E. Mühsam und V. Tausk“ torkeln diese und ein paar Frauen durch München und reden so, wie man vielleicht früher geredet hat. Über Revolution, Zeitungsmachen, Sex, Psychoanalyse. Sätze wie: „Nietzsche wußte doch, daß die Christen und ihr Vatergott den Menschen den Glauben an sich selbst nehmen. Könnten wir nicht, wenn wir an uns selbst glaubten, Götter sein?“ Soso.
Die meisten seiner Helden haben Geld; wie die meisten revolutionären Helden deutscher Geschichte kommen sie aus dem gehobenen Bürgertum. Aus der Salonrevolution wird jedoch Wirklichkeit.
Matzger hat über die Münchner Räterepublik recherchiert und leidet aufrichtig mit seinen ProtagonistInnen. Es passiert was, die Helden verändern sich mit ihren Erfahrungen, werden lebendig, die Sprache verliert an Gespreiztheit, und vor allem gibt es großartige Stellen, Schlußszenen, in denen die Helden von der Konterrevolution ermordet werden oder sich selber zu Tode bringen: „Gustav stößt einen gräßlichen Schrei aus, hält sich mit beiden Händen den Kopf und taumelt zu Boden. Noch im Fallen dringt eine Kugel in seinen Rücken. Zuckend wehrt er sich gegen den Schmerz, reizt die Meute, noch einmal über ihn herzufallen. Und im Schutz der Dunkelheit zerstampfen sie ihm den Hinterkopf, die Rippen, die Genitalien, stechen ihm die Augen aus. Völlig unabhängig von dem Gemetzel wollen letzte Worte hervordringen, Gedanken fließen, Begriffe auseinanderschwirren wie Sonnenstäubchen...“ Nach zwei langen U-Bahnfahrten ist es zu Ende mit der Münchner Räterepublik.
Wenn Männer schreiben, haben sie Schwierigkeiten, Frauen zu Wort kommen zu lassen. Ängstlich oder erwartungsfroh finden sie zwar meist noch bis zur Möse oder zum „heiligen Sakrament“ (Schmidt). Und das scheint auch zunächst wichtig zu sein, mindestens als Mutprobe für den jungen Helden Marcel Hermanns, der sich nicht vor der nackten Freundin eines jugendlichen Heimanführer schrecken läßt, was dieser beabsichtigt, sondern abfällig bemerkt, daß die „ja 'ne Glatze zwischen den Beinen“ hat, aber Hermann hat als Schwuler natürlich sowieso andere Probleme und männliche Helden und die böse Mutter. Bei Kiev Stingl steht das Wort „Votze“ meist am Ende, laut hervorgestoßen als kleines Gespenst. Und „die Weltrevolution beginnt nicht erst dann, wenn der Mann der Frau unter den Rock greift“, schreibt Matzger, dem man nicht zum Vorwurf machen kann, daß seine Frauen kaum was sagen, weil er halt auf Männerzeugnisse zurückgreift. Mund und Kopf der Frau bleiben trotzdem meist geschlossen oder werden nur geöffnet, um männlichen Hirnprojektionen Raum zu geben. Dafür riecht oder schmeckt die Frau: „Er konnte ihre fahlen Warzen und Achselhöhlen ablecken, ohne Schweiß oder Deo zu schmecken“ (Marius Babias). Was ja auch interessant sein kann.
Detlef Kuhlbrodt
Frank Schmidt liest ab und an an verschiedenen Orten; Die zweite Seite der Dunkelheit ist im Verlag Frieling & Partner erschienen und kostet 17,80 DM;
Marius Babias, Herbstnacht, Edition Kunst und Literatur 1990, 10 DM; z.Zt. nur über Bestellung bei der Edition KL, Postfach 440613, 1-44 erhältlich;
Marcel Hermann, Renegat - Hurensohn, Verlag Basilides, Berlin, 22,80 DM;
Reiner Matzger, Der Attraktor, R. Matzger Verlag DiA, Berlin, Postfach 130193 oder in der Buchhandlung, ca. 15 DM.
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