: Vor einem zweiten Wiedersehensfest?
■ Südkorea bietet an, seine Grenze nach Norden für sechs Tage zu öffnen
Man hat oft und zu Unrecht die Teilung Deutschlands mit der Koreas identifiziert. Aber weder war Nordkorea ein Vasall der Sowjetunion (oder Chinas) noch gewann Südkorea trotz spektakulärer ökonomischer Erfolge jenen Grad an Eigenständigkeit gegenüber den USA, wie ihn die BRD bereits in den 60er Jahren erreicht hatte. Eine Zeitlang schien es so, als ob der Norden mit seiner auf vollständige Eigenständigkeit und „Vertrauen auf die eigene Kraft“ ( Dschudsche-Ideen) orientierten Entwicklungspolitik zum Brennpunkt einer Wiedervereinigungsbewegung werden könnte. Dann brach zur bitteren Enttäuschung westlicher „Abkopplungs„-Theoretiker der nordkoreanische Entwicklungsweg zusammen, während Südkoreas Exportoffensive unsere Elektronikhersteller erzittern ließ.
Die Demokratiebewegung im Süden hat das Militärregime wenn nicht beseitigt, so doch in die Defensive gedrängt. Im Norden hingegen bildete sich jene Form des Feudalsozialismus heraus, die schließlich in den Versuch einmündete, eine faktische Erbmonarchie zu begründen. Der Verschiebung des Kräftegleichgewichts zugunsten des Südens konnte Kim-Il-Sung jahrzehntelang durch eine geschickte Schaukelpolitik zwischen der Sowjetunion und China konterkarieren, die ihm die Unterstützung beider sicherte. Die Neuorientierung der sowjetischen Südkorea-Politik machte diesem Spiel ein Ende. Wenn der Norden trotz seines abstoßenden Gesellschaftssystems nicht allen Einfluß auf die südkoreanische Gesellschaft verloren hat, so wegen seiner nationalistischen und antiimperialistischen Rhetorik. Die wurde freilich nie auf eine ernsthafte Probe gestellt, denn die Angebote des Nordens, im Interesse der nationalen Einheit ein Minimum an Kontakten zwischen der Bevölkerung beider Staaten zuzulassen, ist vom Süden nie ausgetestet worden.
Dort überwog bis heute Kommunistenfurcht und der Selbsterhaltungstrieb der Machtelite. Das Schicksal Hunderttausender getrennter Familien, denen jeder, auch der briefliche und telephonische, Kontakt verboten war, wurde zum Spielmaterial endloser Verhandlungsrunden. Nur einmal, 1985, war unter der Schirmherrschaft des Roten Kreuzes ein Wiedersehen möglich. Die emotionale Schubkraft, die von diesem Ereignis ausging, konnte von keiner der beiden koreanischen Regierungen übergangen werden.
Der jüngste Vorstoß Südkoreas, das Land für sechs Tage den Einwohnern des Nordens zu öffnen, stellt Kim Il Sung vor eine schwer entscheidbare Alternative. Außenpolitisch zunehmend isoliert und in prekärer wirtschaftlicher Lage, kann er sich dennoch nicht von den Parolen nationaler Einheit und Zusammengehörigkeit distanzieren, die er im Unterschied zu den SED-Führern zu skandieren nie aufgehört hat. Andererseits könnte das Massenfest im Süden zu einer nachhaltigen Erschütterung seiner Herrschaft führen.
Christian Semler
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