: Ein paar Atemzüge Freiheit
■ Vor vierzig Jahren erschienen Alfred Anderschs „Kirschen der Freiheit“, die auch im Rahmen der aktuellen Debatte über Desertion eine Rolle spielen sollten
Fahnenflucht. Alfred Andersch, der im Februar vor zehn Jahren starb, hat der Desertion in seinem literarischen Wirken eine zentrale, prägende Stellung eingeräumt.
Die erste literarische Bearbeitung des für ihn ja auch autobiographischen Stoffes, seine Erzählung Flucht in Etrurien, wurde trotz eines Serienabdrucks in der 'Frankfurter Allgemeinen Zeitung‘ im August 1950 kaum beachtet. Dieser Vorarbeit folgten zwei Jahre später die Kirschen der Freiheit. Es sind die Kirschblüten eines Erich Maria Remarque, der in seinem Anti-Kriegs-Roman die Desertion mit dieser Freiheitsmetapher verband, die Andersch schließlich mit der literarischen Darstellung seiner vollzogenen Flucht von der Fahne reifen läßt. In seinem Spätwerk, dem Kriegsroman Winterspelt (1974), nimmt er die Problematik in größerem Maßstab noch einmal auf. Der Autor entwirft darin das Planspiel einer fiktiven kampflosen Übergabe eines deutschen Bataillons durch den deutschen Major an die Amerikaner. Schauplatz Oktober 1944 an der Ardennenfront.
Andersch, der im Sommer 1944 in Italien zu den Amerikanern übergelaufen war, veröffentlichte seinen literarischen Bericht über seine eigene Desertion 1952. Ein Affront gegen die westdeutsche Restauration war es, als er bezugnehmend auf das Attentat gegen Hitler seinen Schritt in die Nähe des militärischen Widerstands rückte: „Mein ganz kleiner privater 20. Juli fand bereits am 6. Juni statt“, schrieb er und reklamierte für sich als „einzelnen Soldaten“ - dem herrschenden Zeitgeist der Verfasser von Kriegsmemoiren zum Trotz - Einsichtsfähigkeit und Verantwortung, um den Schritt der Fahnenflucht vollziehen zu können. „Ich hatte beschlossen, davonzulaufen. Es war eine klare Sache.“
Unter den Angehörigen der „Gruppe 47“ (Böll, H.W. Richter, Schnurre, Kolbenhoff) waren gewiß nicht wenige, die, Andersch vergleichbar, ein ganz spezifisches Kriegserlebnis
-die Aufkündigung des Gehorsams gegenüber der militärischen Macht - nach 1945 in Literatur faßten. Alfred Andersch bekennt sich in den Kirschen indes uneingeschränkt zum positiven Sinn seiner Fahnenflucht. Dem Mythos der Kameradschaft, die er als ein herdenhaftes „Beim-Haufen -Bleiben“ charakterisiert, setzt der junge Autor - aus der Beschäftigung mit Sartre heraus - seine mutige Tat als einen Akt der Freiheit, als eine geistige Entscheidung zur Unabhängigkeit, entgegen.
„Man ist überhaupt niemals frei“, schreibt er, „außer in den Augenblicken, in denen man sich aus dem Schicksal herausfallen läßt. Niemals kann Freiheit in unserem Leben länger dauern als ein paar Atemzüge lang, aber für sie leben wir.“ Zugleich ist die Desertion in den Augen Alfred Anderschs ein Akt der Selbstverteidigung gegen den sinnlosen, weil unter bedingungslosem Zwang abverlangten Fahneneid Nazideutschlands, dem er die Legitimität abspricht, zumal er die Bindung in bedingungslosem Gehorsam auf die Person Hitlers festschrieb. Die vermeintliche „Angst“ und „Feigheit“ läßt er dem Deserteur zur Ehre gereichen. Ehrenvoll sei es für den Fahnenflüchtigen, sich vom Angesicht des Todes abzuwenden und nicht sinnlos sterben zu wollen, und er betont, daß die meisten Desertionen nicht aus Furcht vor dem Tode sondern aus dem Willen zu leben geschähen.
Als einen vollständigen Ausstieg aus dem Krieg wird man die Kirschen der Freiheit nicht intepretieren dürfen. In der Konsequenz seiner Motivation liegt es wohl, daß er sich, wie aus amerikanischen Kriegsgefangenenunterlagen hervorgeht, bei den obligatorischen Interviews der US-Behörden für einen Dienst in der amerikanischen Armee oder einem deutschen Anti -Hitler-Bataillon zur Verfügung stellte („has signed voluntary request to be taken into either American Army or a German Legion“), was freilich von amerikanischer Seite nicht berücksichtigt wurde.
Den in der Deutschen Dienststelle (WASt) verwahrten Unterlagen Alfred Anderschs ist nicht nur zu entnehmen, daß er tatsächlich seit dem 6. Juni 1944 von seiner Truppe in Bracciano vermißt wurde. Das von den zuständigen Behörden der US-Army für die Aufnahme von Kriegsgefangenen angefertigte „Basic Personal Record“ trägt vermutlich auch das erste nach seiner Desertion - am 13. Juni 1944 aufgenommene Portraitfoto Anderschs.
Die Veröffentlichung der Kirschen hätte zeitlich nicht besser plaziert werden können, vergegenwärtigt man sich die seinerzeit heftig diskutierte Remilitarisierung Westdeutschlands bei gleichzeitiger Rehabilitierung der Wehrmacht-Generalität. Der bundesdeutsche Buchmarkt wird Anfang der fünfziger Jahre mit einer Flut kriegsverherrlichender Memoirenliteratur überschwemmt. Die Lektüre der Kirschen ist heute im Zusammenhang mit der Desertionsdebatte ebenso aktuell wie die der damaligen Rezeption in Kritiken und Leserbriefen. Die meisten der über siebzig sehr unterschiedlichen Kritiken konzedierten dem Bericht eine enorme politische Sprengkraft. Die Auffassungsgabe eines vehementen Kritikers brachte es auf den Punkt: “... es geht gegen den deutschen Wehrbeitrag.“ Man durfte, wie Hans Georg Brenner in seiner Kritik zutreffend feststellte, sich aufgrund der Tonarten der Angriffe gegen das Buch Aufschluß über die „neuesten Nuancen demokratischen bzw. undemokratischen Denkens“ erhoffen. Ein 'Spiegel'-Leser äußerte den Wunsch, „daß Anderschs Kirschen am Baum verfaulen“.
Mit seiner Polemik gegen eine Wiedereinführung der Wehrpflicht und für die Ehre des Deserteurs zieht Andersch eine außerordentlich militante Kritik auf sich. In Leserbriefen wird er als „Wühlmaus“, „krankhaftes Individuum“, als „Gesindel“ und als „asozial“ diffamiert. In den folgenden Jahren wird er - wie bereits im Vorfeld der Veröffentlichung - von deutschen Verlagen gemieden: allerhand Gründe für seine spätere Übersiedlung in die Schweiz. Vor allem Konservative und Kritiker klerikal beeinflußter Zeitungen halten an den von Andersch kritisierten überkommenen Werten wie Kameradschaft, Treue, Tapferkeit und Eidespflicht fest.
Es scheint symptomatisch für die Befindlichkeiten der deutschen Nachkriegsgesellschaft, daß ein so emphatisches „Wo sind die Deserteure?“, wie Heinrich Böll es in einer Besprechung der Kirschen hinausrief, bis in unsere Tage ungehört verhallte. Wie notwendig ist da ein DENKmal für Deserteure. Norbert Haas
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