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Die Linke - als historische Erscheinung?

DEBATTE

„Es ist eine unleugbare und sehr erregende Tatsache, daß der Marxismus seit der Leistung von Marx selbst auf der gesamten theoretischen Front keinerlei wesentliche Fortschritte gemacht hat; daß er, als wäre er eine bürgerliche Ideologie und nicht eine in der konkreten Geschichte wurzelnde ... Theorie ... schließlich unter jedes noch bezeichenbare Niveau herabgesunken ist“ (Max Raphael in Marxismus und Geisteswissenschaft.

Nachdem in den vergangenen Monaten der Reihe nach die behauptete Solidarität der DDR-Gesellschaft, ihr „langsamerer gesellschaftlicher Pulsschlag“ (Klaus von Dohnanyi) und die ebenfalls unterstellte eigenständige Intellektuellenlandschaft von der Liste dessen, was es zu bewahren gelte, gestrichen wurde, ist das Abstraktum Utopie übriggeblieben. Diese „Bewahrung der Utopie“, eine kuriose Verbindung eines konservativen und eines nach radikaler Veränderung rufenden Begriffes, kommt der Realität vermutlich ungewollt sehr nahe. Es ist zum größten Teil eine taktische Überlegung, Utopie als Gegengewicht zum Status quo der Gesellschaft zu erhalten. Gerade diese Forderung, daß da noch etwas sein müsse, was der ungebrochenen Selbstbestätigung eines Systems entgegensteht, hat die Linken zu miserablen Kritikern dieses Anderen werden lassen. Die Lehre von den Lagern und ihre Forderung, man dürfe das eigene durch schmerzhafte Analysen nicht zu sehr schwächen, da dies das andere stärke, rächt sich bitter. In diesem Zusammenhang steht auch der Satz Heiner Müllers, Verzicht auf Kritik bedeute Verrat an der Zukunft. Hier ist vor allem die Kritik an Utopien gemeint.

Das Verdikt, Utopie habe etwas radikal anderes zu sein als die gegenwärtig erlebte Realität, hat bei nahezu allen klassischen Entwürfen zu einer Trennung von Gegenwart und Zukunft geführt; zu einer Sehnsucht nach einem sauberen Raum, in dem unbeschränkt experimentiert werden kann. Keine Utopie beginnt in der Gegenwart, sondern erst, wenn diese erfolgreich weggewünscht worden ist. Bei Morus landet Utopius auf einer Halbinsel, “...und kaum war er dort gelandet und Herr des Landes geworden, so ließ er eine Strecke von 15 Meilen auf der Seite, wo die Halbinsel mit dem Festland zusammenhing, ausstechen und führte das Meer ringsherum... Bei den Nachbarvölkern aber, die es anfangs als aussichtsloses Beginnen ins Lächerliche gezogen hatten, erregte der Erfolg Staunen und Schrecken“ (Thomas Morus Des Raphael Hytholedeus‘ Rede über den besten Zustand des Staates). Edward Bellamy mußte seinen Helden Julian West in einen Starrkrampf versetzen, der ihn im Keller seines verschütteten Hauses von 1887 bis zu seinem glücklichen Erwachen im Jahre 2000 konserviert. Obendrein erfolgt der „Rückblick aus dem Jahre 2000“ aus einer denkbar tristen Welt von Arbeitsarmeen und Gutscheinsystemen. Auch die Marxsche „praktische Bewegung zur Aufhebung des gegenwärtigen Zustandes“ braucht die Vision einer Weltrevolution, um tabula rasa zu machen. Und Thoreaus „Walden“ funktioniert als Negation in Richtung Vergangenheit, in der Rückverwandlung der gesellschaftlichen in die Naturexistenz des Menschen.

Hatten die früheren Utopien mehr oder weniger Schwierigkeiten, Innovation als Teil des gegenwärtigen Zustandes zu begreifen, so lesen sich die neuen Entwürfe der bewahrten und sorgfältig gegen den geringsten Pragmatismus abgeschirmten Utopien wie eine Parodie auf den Geisteszustand der Linken. Dieser ist aber tatsächlich so schlimm, daß er gar nicht mehr parodiert werden kann. Schlimm, da alles, was links von der Sozialdemokratie steht, im wachsenden Maß von Intellektuellen getragen wird, deren Bezug zu dem Rest der Gesellschaft samt ihrer Realität ständig geringer wird. Schlimm, weil jener Teil der politischen Landschaft es irgendwann, in Ost wie West, für besser befunden hat, sich auf den leider real existiert habenden Sozialismus als Berufungsinstanz zu stützen statt auf die lebensfähigere Opposition aus ihm heraus, auf Dubcek und Havemann, zu deren Niederlage sie damit beitrugen. Weil die Linke seit geraumer Zeit versucht, ohne jedes philosophische Konzept auszukommen, und ihr extremer Teil sogar stolz auf seine Philosophiefeindlichkeit ist.

Um den irgendwie gespürten Mangel an Theorie auszugleichen, donnert sich die Linke mit einem schwer erträglichen Begriffsfummel auf. Jede vollgetippte Seite wird zum Positionspapier, jeder öffentliche Auftritt heißt Projekt, jeder Schimpf eine Kritik. Sinnieren wird in den Rang einer Analyse gehoben; drei end- und ziellos palavernde Grüppchen, deren Vertreter sich ab und an in der Straßenbahn oder in der Mensa sehen, werden zur horizontal vernetzten Basisstruktur stilisiert. Das nimmt in dem Maße zu, wie es geistig bergab geht: von der Fähigkeit, im Hegelschen Sinne aufzuheben, zu dem Bedürfnis, die Realität durch eine andere zu „ersetzen“, bis zur endlosen Beschimpfung der Realität, die sich offenbar so nicht ersetzen lassen will. Die Linke ist nicht mehr Träger der gesellschaftlichen Innovation; sie ist zu schwach geworden, um überhaupt noch irgend etwas zu tragen.

Es ist Zeit, die Linke nicht idealistisch verklärt, sondern als historische Erscheinung zu betrachten. Sie ist eine verarmte und abgewirtschaftete Ideologie, die allerdings sehr real begreif- und beschreibbar ist als ein (nach Marx) falsches Bewußtsein, dessen Ursachen man erklären kann. Ihre raison d'etre ist das tief innere Bewußtsein, Paria der Gesellschaft zu sein; ihr Nichtbegreifenwollen, daß die Infragestellung bestimmter Dinge wie der parlamentarischen Demokratie aufgehört hat, und diese nun ihrerseits zur raison d'etre jeder modernen Gesellschaft gehört. Aus dem Paria-Bewußtsein heraus sind diese Utopien zu sehen, wie sie beispielsweise von dem DDR-Dramatiker Thomas Brasch aufgemacht werden, sogar in zwei Varianten. In der einen soll ein Staat - dessen Gestalt nicht näher beschrieben ist

-eine genügende Anzahl Mercedes-Karossen unter das Volk streuen, mit der Bedingung, daß diese bei Benutzung immer voll besetzt zu sein haben. Damit wäre nämlich der Sozialneid beseitigt. Dieser Vorschlag klingt allerdings mehr wie ein Versuch Edzard Reuters, sich über das linke Elend lustig zu machen.

Die zweite Variante hat zum Inhalt, die DDR zu einer internationalen Anarchistenrepublik zu machen. Das ist kein provokatives Nebenprodukt linker Ideologie, sondern auf solche Visionen reduziert sie sich zunehmend. Daß dies durchaus nicht nur auf die deutsche Linke zutrifft, zeigt der Vorschlag des tschechoslowakischen Schriftstellers Jaroslav Langer, das „Machtvakuum im Ostblock solle von keiner Bewegung ausgefüllt“, sondern durch „herrschaftsfreie Strukturen“ ersetzt werden. Träger dieser Strukturen soll ein „Klub engagierter Parteiloser“ sein; regieren - im herrschaftsfreien Raum, versteht sich - kann eine Art permanent tagender Runder Tisch. Weiteres wird nicht erklärt und alles Erklärte selbstverständlich (es gehört zum linken Selbstverständnis) nicht fundiert. Die Trennung von utopischem Entwurf und aktuellem Gesellschaftszustand erfährt ihren Höhepunkt in der totalen Säuberung des Entwurfs von allen Gegenwartsspuren und dem letzten pragmatischen Splitter, auf daß die reine andere Lehre entstehe.

Während einer Veranstaltung der „Marxistischen Gruppe“ in der Leipziger Uni rief der namenlose Referent verzweifelt dem unmutigen Publikum zu: „Aber Imperialismus ist doch nix Schönes!“ Genau darauf schrumpft die linke Ideologie zusammen: Imperialismus ist häßlich. Auf diesen Fluchtpunkt richtet sich alles, was derzeit ideologisch links von der Sozialdemokratie steht, und es wird früher oder später, eher früher, dort ankommen, wo die „marxistische Gruppe“ heute schon steht: im depraviertesten Zustand, in den eine Ideologie überhaupt geraten kann.

Es bleibt, Geburts- und Sterbedaten der Linken - 1789 und 1989 - wahrzunehmen und sich auf einen Neuansatz zu konzentrieren. Dieser - er formiert sich bereits sehr vage könnte allein schon deshalb Faszination ausüben, weil er aus dem Leben der Linken schlau geworden ist.

Alexander Wendt

Der Autor lebt in Leipzig

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