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„Die Wissenschaft muß wieder Teil der Öffentlichkeit werden“

■ Wolfgang Ullmann, Vizepräsident der DDR-Volkskammer und Abgeordneter des „Bündnis 90“, über das Verhältnis von Politik und Wissenschaft / „Die Präsizisionssprache der Wissenschaft muß übersetzt werden in die Umgangssprache des öffentlichen und politischen Alltags“

INTERVIEW

taz: Herr Ullmann, haben Sie in diesen Tagen nicht genug zu tun, daß Sie sich die Zeit nehmen für einen Kongreß zum Thema „Technik und Politik“?

Wolfgang Ullmann: Es stimmt, eigentlich müßte ich im Präsidium der Volkskammer sitzen. Ich bin dennoch nach München gekommen, weil die Bürgerbewegung, aus der ich komme, ein großes Theoriedefizit hat. Ich nehme hier die Gelegenheit wahr, mit Vertretern der Grünen und interessierten Wissenschaftlern über theoretische Fragen der künftigen Politik der Bürgerbewegung zu diskutieren.

Wie wünschen Sie sich das Verhältnis von Wissenschaft und Politik?

Die Frage ist schwer zu beantworten, weil sie zwei Ebenen die inhaltliche Seite und die Arbeitsstrukturen - betrifft. Zur Zeit vollzieht sich die Beziehung zwischen Wissenschaft und Politik im wesentlichen über die Berater der Abgeordneten. Mir schwebt eine viel engere Beziehung vor. Dazu wäre es nötig, daß die Wissenschaft wieder in höherem Maß ein Teil der Öffentlichkeit wird. Die Universität ist ja einmal angetreten als ein Teil, vielleicht sogar als das wichtigste Forum der öffentlichen Auseinandersetzung. Die Professoren hießen „öffentliche Professoren“. Das ist völlig verschwunden, weil die Professoren Spezialisten geworden sind, die kaum noch Kontakt zur Öffentlichkeit haben. Das ist unbefriedigend, und ich möchte gern daran mitwirken, daß die hochspezialisierten Wissenschaftler in Meinungsaustausch mit den Politikern treten und natürlich auch mit den von ihren Forschungsergebnissen ebenso betroffenen Bürgern.

Dazu müßte die Wissenschaft erstmal ihre Sprache ändern.

Das ist richtig, aber keine ungewöhnliche Aufgabe. In unserer Welt muß man ständig übersetzen. Sie ist nun einmal vielsprachig, und da muß man auch die Präzisionssprache der Wissenschaft übersetzen in die Umgangssprache des öffentlichen und politischen Alltags.

Pessimisten glauben, daß demokratische Gesellschaften grundsätzlich nicht mehr geeignet sind, die verhängnisvollen Folgen von Wissenschaft und Technik zu begrenzen. Nur diktatorische Systeme seien dazu in der Lage.

Das hängt davon ab, wie man Demokratie versteht. Zweifellos ist es so, daß die repräsentative Demokratie des 18.und 19.Jahrhunderts, in Form der Parteiendemokratie, heute nur noch in begrenztem Umfang auf die Herausforderungen von Wissenschaft und Technik zu antworten vermag. Das hängt damit zusammen, daß der Willensbildungsprozeß über Repräsentationsträger, wie das in einem Parteiensystem ja der Fall ist, sehr viel Zeit erfordert. Das gerät in wachsendem Maße in Gegensatz zu einer schnellebigen Gesellschaft.

Trotz aller Begrenzheiten der Parteienpolitik denke ich aber, daß ein gewisses Recht auf ihrer Seit bleibt. Denn der Beschleunigungsgrad im menschlichen Zusammenleben droht ja auch unmenschlich zu werden. Insofern ist es nicht verkehrt, wenn wir ein konservatives Element bei der Willensbildung haben. Dieses Element stellen die großen Parteien zweifellos dar.

Dennoch gibt es tatsächlich hinsichtlich des hierarchischen Grundzuges unserer Gesellschaft eine Tendenz zur Diktatur. Zentralismus setzt sich immer wieder durch. Aber ich denke, es gibt jetzt einen weitreichenden politischen Konsens im Osten wie im Westen, daß man dieser Entwicklung entgegenwirken muß. Und wie kann man das besser tun als mit Strategien der Demokratisierung.

Der reale Sozialismus hat die Wissenschaft in den Dienst des Systems gestellt. Wie kann Politik „freie Wissenschaft“ in den Dienst am Menschen stellen?

Diese Möglichkeit sehe ich allein darin, daß die Politik sich nicht dem Selbstlauf der institutionellen Interessen preisgibt, sondern sich den speziellen Wirklichkeitszugang, den die Wissenschaft ermöglicht, zueigen macht. Das heißt aber gerade nicht, eine Politik auf wissenschaftlicher Grundlage zu machen, wie das die SED für sich beansprucht hat. Das ist ein Mißverständnis sowohl von Wissenschaft als auch von Politik. Wissenschaft ist allein der Erforschung der Wirklichkeit zugewandt, ohne Rücksicht auf irgendwelche politischen oder partiell andersartigen Interessen. Politik hingegen muß gerade diese Interessen verantwortlich wahrnehmen. Der Politiker hat aber die Pflicht, sein Handeln nicht gegenüber dem Wissen über den Zustand der Gesellschaft und der Wirklichkeit zu isolieren.

Egon Krenz hat nach den Wahlfälschungen bei den Kommunalwahlen 1989 den Computer verantwortlich gemacht. Ist es überhaupt noch möglich, in dieser Welt Verantwortung zu übernehmen?

Ich denke, die Möglichkeit ist unstrittig. Strittig ist die Form, wie sie wahrgenommen werden kann. Darüber und über die Frage, wie möglichst viele Bürgerinnen und Bürger daran beteiligt werden können, muß es einen nützlichen Streit geben.

In der DDR gibt es derzeit einen tiefen Graben zwischen Leuten vor allem aus der Oppositionsbewegung, die politisch handeln wollen, und vielen Bürgern, die jetzt schnell die Entwicklung der Bundesrepublik nachholen wollen. Wo steht der Politiker Wolfgang Ullmann in diesem Konflikt?

Zunächst mal sehe ich das so wie Sie. Die Bevölkerung hat aber ein Recht zu drängen. Sie ist lange genug ausgegrenzt worden von der Entwicklung der Technik, der Kultur und der Gesellschaft vor allem in Westeuropa. Die Pflicht der Politiker ist, diesen Drang wahrzunehmen und dafür zu sorgen, daß die berechtigten Forderungen und Bestrebungen so erfüllt werden, daß andere Völker, andere Männer und Frauen darüber nicht benachteiligt werden.

Wird die DDR alle Fehler, die die BRD gemacht hat, auch machen müssen, oder sehen Sie Chancen, etwas besser zu machen?

Ich fürchte, manche Fehler sind schon programmiert, was mit der etwas mechanischen Übernahme westdeutschen Rechts zusammenhängt. Aber es gibt keinen allgemeinen Zwang. Im Grunde habe ich den Eindruck, daß die Fehler, die wir machen, doch auch andere sind.

Wie schätzen Sie die Chancen einer „solidarischen Gemeinschaft“ ein, die auf dem Kongreß hier vielfach als gesellschaftliche Perspektive beschworen wurde? Im Moment sieht es doch eher nach einer Verschärfung der Ellbogengesellschaft aus.

Chancen gibt es in dem Maße, wie die Politiker es vermögen, allgemeinverständliche Ziele zu formulieren und die Leute entsprechend zu ermutigen. Dazu gehört unvermeidlich die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung. Im letzten Dorf in Bayern wie in Mecklenburg muß verstanden werden, daß das eine gemeinsame Sache ist. Dazu muß es natürlich erstmal den politischen Willen geben. Mittlerweile habe ich die Hoffnung, daß die Bonner und die Ostberliner Koalitionen nach den Erfahrungen mit dem ersten Staatsvertrag gelernt haben, daß der dort beschrittene Weg nicht gut war.

Warum nicht gut?

Weil das nichtöffentliche Politik war und die Parlamante ausgeklammert wurden. Jetzt kommt es darauf an, wieder Mut zu fassen zu politischem Handeln. Die Haupthaltung unserer Zeit ist die Lethargie und die Angst vor Entscheidungen, die über den nächsten Schritt hinausreichen.

Das Gespräch fand am Rande des Münchner Grünen-Kongresses „Technik und Politik“ statt. Interview: Sabrina Rachle.

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