„Nieder mit den Intellektuellen!“

■ Gespräch mit dem rumänischen Schriftsteller Octavian Paler

INTERVIEW

Octavian Paler (64) gehört heute zu den prominentesten oppositionellen Schriftstellern Rumäniens. Von 1949 bis Anfang der 80er Jahre bekleidete er verschiedene hohe Posten in Rundfunk und Fernsehen, zuletzt als Chefredakteur der rumänischen Tageszeitung 'Romania libera‘. Er fiel schließlich bei Ceausescu in Ungnade, und das Regime inszenierte wegen seines sozialkritischen Romans „Leben auf einem Bahnsteig“ eine wüste Verleumdungskampagne gegen Paler. 1989 solidarisierte Paler sich mit dem unter Hausarrest gestellten Dichter Mircea Dinescu. Bei den blutigen Ereignissen vom 13. bis 15. Juni, als Iliescu Bergarbeitertrupps gegen die friedlichen Demonstranten auf dem Bukarester Universitätsplatz eingesetzt hatte, riefen die Rollkommandos „Tod den Intellektuellen“ und „Nieder mit Paler“.

taz: Welche Rolle spielen die Intellektuellen im postrevolutionären Rumänien?

Oktavian Paler: Die Intellektuellen verkörpern den Zweifel schlechthin, den kritischen Geist. (...) Wenn der Ruf „Nieder mit den Intellektuellen“ laut wird, wenn regelrecht eine Jagd auf Intellektuelle veranstaltet wird, wie in Bukarest während der Ereignisse vom 13. bis 15. Juni, dann geht es nicht bloß um die körperliche Unversehrtheit von Intellektuellen, sondern um den Charakter unserer sogenannten Demokratie. Bei uns wird die Zukunft aufgeschoben. Wir haben einen Diktator gestürzt, ohne die Ursachen der Diktatur zu beseitigen. Das Gespenst Ceausescu spukt noch in Rumänien.

Wir begehen allerdings einen Fehler, wenn gewisse „Unfälle“ nur einer Person in die Schuhe geschoben werden. Niemand bestreitet, daß Ceausescu ein Monstrum, eine pathologische Verirrung der Geschichte gewesen ist. Seine Anhänger stellten so etwas wie eine chinesische Mauer dar, die ihn vor der Gesellschaft beschützte. Dieser vulgäre und brutale Diktator stützte sich aber nicht nur auf den der herrschenden Familie hörigen Repressionsapparat. Ich habe im vergangenen Jahr einen Roman geschrieben, Die zweite Polizei, in dem es um die freiwillige oder auch unfreiwillige Teilnahme der Leute an den totalitären Mechanismen geht: um die Komplizenschaft mit den eigenen Unterdrückern. Eine Aufarbeitung der Schuld jedes Einzelnen ist meines Erachtens heute eine unumgängliche Notwendigkeit. Leider versucht man heute, alles zu vereinfachen, um die Fragen nach den moralischen Verformungen, die die Diktatur hinterlassen hat, zu umgehen, zu verdrängen. Die rumänische Gesellschaft möchte jetzt alles vergessen, was auch die Wahlen vom 20. Mai bewiesen haben. Diese Gesellschaft dürstet nach Amnesie. Dadurch meinen die Menschen, von der Krankheit der Diktatur schnell genesen zu können. Das Vergessen ist jedoch eine falsche Form der Rekonvaleszenz. Die Freiheit muß zuerst in der eigenen Schuld aufgestöbert werden.

Wenn Sie von der Vergangenheit sprechen, denken Sie auch an die Königs- beziehungsweise die faschistische Diktatur?

Nein, denn diese waren andere Abweichungen von der Demokratie. Die kommunistische Diktatur stellt eine historische Abweichung sondergleichen dar. Heute kann in Rumänien keinesfalls an die demokratischen Traditionen des Jahres 1946 - wie einige meinen - angeknüpft werden, weil in der seither verflossenen Zeitspanne sich sowohl in unserem Land als auch in der Welt viel verändert hat. Die Zeit kann nicht zurückgespult werden, in der Absicht die Geschichte zu umgehen. 1946 existierte in Rumänien noch eine zivile Gesellschaft, auch die materiellen Voraussetzungen einer solchen Gesellschaft. Für das, was heute in Rumänien geschieht, tragen wir die volle Verantwortung (...) Eine Gesellschaft, die ihre Vergangenheit mystifiziert oder gar ignoriert, weigert sich, aus den eigenen Fehlern zu lernen.

Leider hat der Zweite Weltkrieg in Rumänien noch nicht aufgehört. In all diesen Jahren fühlten wir uns vom Westen verraten. Der Westen war zum Komplizen Ceausescus geworden. Andererseits wurden wir gerade vom Westen einer Passivität bezichtigt, die letzten Endes vom Westen mitorganisiert worden war.

In Rumänien gab es in den Jahren der Diktatur nur sporadisch so etwas wie Widerstand. Die meisten Intellektuellen, wenn sie nicht zu Kollaborateuren des Regimes geworden waren, hielten sich zurück. Heute ist erneut eine Polarisierung der Gesellschaft zu beobachten.

Man möge nicht vergessen, daß Rumänien eine Ausnahme in Osteuropa war. Bei uns herrschte, von Albanien abgesehen, die brutalste Diktatur. In den anderen osteuropäischen Ländern konnte man außerdem den Besatzungstruppen die Schuld für gewisse Dinge zuschieben, was wie ein psychologisches Ventil wirkte. Im Unterschied zu diesen Ländern wurde bei uns die Entrumänisierung Rumäniens durch Rumänen durchgeführt. Aufgrund dieser tragischen Paradoxien läßt sich erklären, warum wir auch heute noch eine osteuropäische Ausnahme sind. Infolge der jahrzehntelangen Verformungen ist heute sogar unser logisches Denken in Mitleidenschaft gezogen worden. Die Emotionen haben die Vernunft verdrängt.

Der Dichter Marin Sorescu meint, der Zweite Weltkrieg sei mit dem Sturz Ceausescus für Rumänien zu Ende gegangen.

Am Anfang dachte ich auch wie Sorescu. Und ich war voller Zuversicht, was die Demokratie und Freiheit in unserem Lande betrifft. (...) Als auf den Straßen von Bukarest „Nieder mit den Intellektuellen“ gerufen wurde, fand so etwas wie eine Bartholomäusnacht am hellichten Tage statt. Die organisierte Intellektuellenhatz erinnert frappierend an den Faschismus. Nicht zufällig sagte Goebbels: „Wenn ich das Wort Kultur höre, entsichere ich meinen Browning.“ Man kann nicht vergessen, daß die Faschisten Bücher verbrannt haben, (...) und daß nun so etwas auch bei uns vorgefallen ist. In diesem Punkt trifft der Faschismus mit dem Kommunismus zusammen. Beide Ideologien repräsentieren die Intoleranz. Der totalitäre Staat basiert auf perfekt durchorganisierten inquisitorischen Methoden. Deshalb die gewaltsame Reaktion auf die Kultur, die sich ja immer schon gegen jegliche Dogmen aufgelehnt hatte und die absolute Wahrheit der Herrschenden durch relative Wahrheiten zu ersetzen versuchte.

Nach der Dezemberrevolution wurden in Rumänien nicht nur die Bücher von Ceausescu verbrannt und das Lenin-Denkmal geschleift, sondern auch die Büsten von Constantin Dobrogeanu-Gherea, einem exilierten russischen Juden, der Ende des 19. Jahrhunderts die sozialdemokratische Partei Rumäniens mitbegründet hatte, und von Stefan Gheorghiu, dem Arbeiterführer, der sich für die Einführung des Achtstundentages eingesetzt hatte und der an den Folgen polizeilicher Mißhandlungen 1916 gestorben ist. Herrscht nicht auf beiden Seiten - sowohl der Opposition als auch der regierenden Front - Intoleranz?

Das Schleifen der Büste von Gherea war Ausdruck einer elementaren Aggressivität. Angesichts der böswilligen Intoleranz der Herrschenden würde ich die Unduldsamkeit einiger nicht überbewerten. Ein Land ohne Intellektuelle ist ein Land ohne Zukunft

In Rumänien ist auch eine Wiedergeburt des Nationalismus der nicht nur als ein Erbe des Ceausescu-Regimes bezeichnet werden kann - festzustellen. Welche Rolle spielen die rumänischen Intellektuellen in dieser Phase eines aufkeimenden, aggressiven Nationalismus?

Ich habe mit Bedauern beobachtet, wie die Rumänen in Rumänien sogar gegen die Auslandsrumänen aufgehetzt wurden. Jede Art von Xenophobie führt unweigerlich zu Isolation, zur Erreichung einer Berliner Mauer vor der Zukunft. Camus sagte mal: „Ich liebe meine Heimat viel zu sehr, als daß ich Nationalist sein könnte.“ Ich möchte Patriotismus nicht mit Nationalismus verwechselt wissen. Ich lehne jeden Nationalismus ab, aber es ist mir nicht gleichgültig, was mit meiner Heimat geschieht. Unsere Rückkehr nach Europa kann nur dann stattfinden, wenn wir unsere eigene Identität wiedergefunden haben.

Interview: William Totok