Das Prinzip Hertha

■ Italien liefert den Beweis: Nur der Fußball führt aus der wirtschaftlichen Talsohle heraus. Und Fußball bedeutet an der Spree Hertha BSC.

QUERSCHLÄGER

Der Konjunkturfrosch bockt. Die Wirtschaftsprognosen an der Spree torkeln zwischen Hoffen und Bangen. Arbeitslosigkeit lastet wie ein dichter Trabi-Smog über beiden Seiten der größten Industrieansiedlung zwischen Moskau und Paris. Hüben bibbern frustrierte Arbeitnehmer um ihre „Zitterprämie“ (Berlinzulage); drüben nerven die vom ursozialistischen Recht auf Absentismus geheilten Proletarier mit überzogenen Lohnforderungen. Die Angst geht um in Spree-Athen. Doch der Retter naht! Der Supermann trägt jedoch kein blaues Hemd mit seinen Initialien. Der Hoffnungsträger aller Unionsgebeutelten und Vereinigungsgeschädigten ist eine „alte Dame“ mit einer Werbeanzeige auf ihrem blau-weißen Kostüm: Hertha BSC.

Nun endlich hat die schreckliche, fußballose Zeit ein Ende. Die Uhren zeigen wieder Normalzeit. „Egal, was passiert ist oder was noch kommt, die Berliner lieben nur Hertha“, schmilzt selbst Bürgermeisterin Ingrid Stahmer wie das Eis an den Polen. Nicht Mampe, Momper und Moneten - nein, die Hertha muß es sein. Hunderttausende werden im Stadion und vorm Fernseher die Ärmel hochkrempeln, wenn die Herthaner die Stutzen strammziehen. Mit jedem Erfolg punktet auch die Stadt, mit jedem Tor des Bundesliganeulings prescht das Wirtschaftswachstum in ungeahnte Höhen. Aus Skeptikern werden Investoren, aus Laschmeiern Berserker, aus Fußballfeinden schlichtweg hirnlädierte Kulturpessimisten.

Denn das Wohlergehen eines Gemeinwesens ist eng mit den Künsten seiner Balltreter verbunden. Italien, das Land des WM-Dritten und der hauptberuflichen Blaumacher, dient als leuchtendes Vorbild. Seitdem Schillaci & Co. ihr Land zu Tränen rührten, gehen die Arbeitskräfte weg wie warme panini. Zwischen Pommeronen und Zitranzen pendelt sich das Bruttoinlandsprodukt '90 langsam wie Baresi und sicher wie Zenga bei drei Prozent Zuwachs ein. „Italiens Wirtschaft profitiert von Fußball-WM“, stottern die Nachrichtenticker. Das hat es zwischen Bozen und Bari, Meazza-Stadion und Maradona City seit der Pippinischen Schenkung nicht mehr gegeben! Was sollen also die Sorgen um die Zukunft des Wirtschaftsstandortes Berlin? Seine Einwohner brauchen nicht nach Canossa zu robben, sofern sie den elf Weisen aus dem Olympiastadion huldigen. Der Rest ist Formsache. Schließlich treten die Herthaner in den Farben der boomenden Tifosi an.

Mit dem Anpfiff zur Spielzeit 1990/91 wird das lahmende rot -grüne Regime im Rathaus Schöneberg von Königin Hertha der Blau-Weißen abgelöst. Unser Regierender heißt dann Werner Fuchs, unser Wirtschaftssenator Horst Wolter, Krisenmanager wird Walter Junghans. Sie sind die Helden für eine Saison. Alle anderen müssen auf die Ersatzbank. Nachzulesen in Ernst Blochs „Das Prinzip Hertha“ oder Jürgen Habermas‘ Plädoyer für den Offensivfußball mit dem Titel „Die neue Unwiderstehlichkeit“.

Jürgen Schulz