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„Irgendwann stößt man wieder auf Tschernobyl“

■ Tschernobyl-Kinder in Ferien in Niedersachsen / Zuhause gilt: Nie spazieren gehen, nie schwimmen, nie Äpfel klauen

„Ihr Lächeln war eingefroren, ihre Seelen sind traurig.“ Nur vier Tage sind vergangen, seit der ehrenamtliche Friedenspolitiker Wolf Jung 20 sowjetische Jungen und Mädchen im niedersächsischen Bad Gandersheim vorübergehend in seine Obhut nahm. Er

ist besorgt, der ehemalige Pastor aus Berlin. Die zehn- bis 15jährigen Mädchen und Jungen aus Korma bei Minsk sind Tschernobyl-Kinder. In ihrer Heimat droht der Strahlentod. „Plötzlich ist der schwarze Sommer 1986 wieder ganz nah“, sagt Wolf Jung, auf

dessen Initiative außerge wöhnliche Ferien der sowjetischen Kinder zurückgehen. Die Jungen und Mädchen sollen endlich einmal abschalten können. „Aber irgendwann stößt man dann doch wieder auf Tschernobyl.“

Entstanden war der Erholungsaufenthalt für die Kinder über Kontakte der Gandersheimer Friedensinitiative und der evangelischen Propsteijugend zu dem weißrussischen Brüderkomitee „Kinder von Tschernobyl“. Drei Wochen insgesamt machen die 20 jungen Leute aus Weißrußland in einem Zeltlager in Bentierode bei Bad Gandersheim im Kreis Northeim Ferien vom Leben in einer strahlenverseuchten Landschaft. Ihre Heimat gehört zu den am stärksten vom Reaktorunfall in Tschernobyl betroffenen Regionen.

Noch heute, vier Jahr nach der Kraftwerkskatastrophe, machen sogenannte „Heiße Flecken“ und atomare Niederschläge den Menschen schwer zu schaffen. Niemand könne abschätzen, wieviel Leben von Männern, Frauen und Kindern der Tschernobyl-Fallout noch fördern wird, meint Wolf Jung. Die Republiken Weißrußland und Ukraine sind in weiten Teilen radioaktiv verseucht. Ironie der Politik: Am Freitag erklärte das Parlament der weißrussischen Republik seine Souveränität und das Land zur atomfreien Zone.

Für die 20 Kinder aus der Region knapp 100 Kilometer nördlich Tschernobyls kommt diese Erklärung zu spät. Wie etwa eine Million ihrer Landsleute müssen auch sie die Auswirkungen der Reaktorkatastrophe tragen. Nur selten ein Wald-Spaziergang, niemals Schwimmen gehen und kein Spielen im Freien. „Wir müssen die

meiste Zeit in unseren Häusern bleiben“, sagte Ludmilla. „Irgendwann aber pflückt man dann doch den verstrahlten Apfel vom Baum.“ Lebensmittel sind nun mal knapp.

Drei bis vier Tage mußte sich die Gruppe erst einmal eingewöhnen, berichtete Jung. Trotz äußerster Vorsicht im heimatlichen Rußland fordere die Strahlenlast aus dem Reaktor ihren Tribut. Gut ein Drittel der um Tschernobyl lebenden Kinder leiden an Leukämie, nur fünf Prozent haben eine Chance auf Heilung.

Während der Ferien in Niedersachsen sollen die Kinder für kurze Zeit die Anstrengungen ihres alltäglichen Lebens vergessen können. Unter anderem sorgen dafür auch Ina und Rudolf. Die beiden in der Bundesrepublik lebenden Aussiedlerkinder aus der Nähe Bukutas haben sich der Gruppe angeschlossen. Gemeinsam gestalten die jungen Leute ihr Ferienprogramm. Jung und viele Helfer aus Bentierode und Gandersheim agieren im Hintergrund. „Wir wollen den Kindern so viel Freiheit wie nur möglich

lassen.“

Nur ein einziger fester Termin besteht: Mit der Fähre soll an einem der kommenden Tage die Weser erkundet werden. Kennengelernt haben die Kinder bisher verschiedene Freizeiteinrichtungen in Bad Gandersheim. Neben Besuchen im Schwimmbad und von Minigolfplätzen fand ein Rundflug in Segelflugzeugen über dem nördlichen Landkreis besondere Anerkennung: „500 Meter hoch in der Luft, das war schon toll“, begeisterte sich Tamara.

Hans H. Fränkel/dpa

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