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Kontinuität

■ betr.: "Die 'Endlösung der sozialen Frage'", von Ruth Sauerwein, taz vom 25.7.90

betr.: „Die 'Endlösung der sozialen Frage'“ von Ruth Sauerwein, (Buchbesprechung zu Klaus Scherer: “'Asozial‘ im Dritten Reich - Die vergessenen Verfolgten“),

taz vom 25.7.90

Die wichtige Auseinandersetzung mit dem nur allzu gern verdrängten Problemfeld von Wissenschaft und NS-Herrschaft findet nicht nur in der Publikation monographischer Untersuchungen statt, sondern auch in Form der Zugänglichmachung in der Tages- und Wochenpresse. Hier leistet die taz seit Jahren einen grundlegenden Beitrag; so auch in der Rezension zur erschreckenden Dokumentation von Klaus Scherer.

Wenngleich die Arbeit Scherers inhaltlich auf die Zeit bis 1945 beschränkt ist, so deuten doch die einleitend vorangestellten Beispiele aus Politik und Gesellschaft, das Interview mit Siegfried Koller sowie sein kurzer Kommentar zu dem 1947 in Hamburg erschienenen Buch von Hans Göbbels Die Asozialen die inhaltliche, institutionelle und personelle Kontinuität des Begriffs „asozial“ seit den fünfziger Jahren an.

Aushängeschild von Regierungen der Bundesrepublik und Exponent der „Asozialenforschung“ ist seit 30 Jahren der Kieler Land-/Betriebswirt und Anthropologe Hans Wilhelm Jürgens. Dieser Name fällt jedoch weder bei Klaus Scherer noch bei Ruth Sauerwein.

Nachzutragen bleibt deshalb die wertvolle Arbeit von Ludger Weß, Hans Wilhelm Jürgens, ein Repräsentant bundesdeutscher Bevölkerungswissenschaft in (der bei Klaus Scherer S. 129 Anm. 4 genannten Edition von): Heidrun Kaupen -Haas (Hrsg.), Der Griff nach der Bevölkerung. Aktualität und Kontinuität nazistischer Bevölkerungspolitik (Nördlingen 1986) S. 121 bis 145. Wie sieht diese Kontinuität aus?

Jürgens, dessen Aufzählung seiner Titel, Ämter und Tätigkeiten in rassenideologischen Kreisen ganze Spalten füllen, habilitierte mit einer Arbeit über „Asozialität als biologisches und sozialbiologisches Problem“ (Stuttgart 1961), welche in Terminologie und Inhalten nicht hinter der „Asozialenforschung“ der „nationalsozialistischen Regierung“ (S. 156) zurücksteht und über die Definition von „asozial“ jenes Hans Göbbels (S. 10) eine direkte Brücke zu den „Versuchen“ der „Regierung des Dritten Reiches (welche sich 'bemühte‘), für diese Probleme eine Lösung zu finden“ (S. 19) schlägt.

Während unter dem Stichwort „Paradigmenwechsel“ in anderen Wissenschaftszweigen durch begriffliche Änderungen gleiche Inhalte tradiert werden, sind im Falle von H. W. Jürgens abgesehen von kleinen sprachlichen Nivellierungsversuchen Konzeption, Inhalte und Terminologie nahezu identisch mit denen der zwanziger, dreißiger und vierziger Jahre. Nach wie vor geht es um die Feststellung der erblichen Determination „asozialen“ Verhaltens und deren „biologische Bekämpfung“ (S. 155). Letzteres, so der Kulturpreisträger der Stadt Kiel, „kann nicht darauf gerichtet sein, die gegenwärtig lebenden Asozialen zu „heilen“ im Sinne einer Resozialisierung, sondern muß darauf bedacht sein, die erbliche Weitergabe der Asozialität und ihre Verbreitung auf dem Wege der Vermehrung einzudämmen. (...) Daher ist wohl auch zukünftig das Asozialenlager für die Bevölkerungsgruppe ein dauernder und auch zweckmäßiger Aufenthaltsort“ (S. 155 und 158).

Was ist im Jahre 1961, in meinem und dem Geburtsjahr von Klaus Scherer, „asozial“? Als Antwort gibt Jürgens „Streitsucht und (...) Rücksichtslosigkeit gegenüber Hausbewohnern, Verschmutzen der Wohnungen und ähnliches, böswilliges Nichtzahlen der Miete, Gleichgültigkeit gegenüber, teilweise auch Sabotage von behördlichen Maßnahmen“ (S.149f.). Obwohl heute im Zuge der „Verbürgerlichung“ der „im Walde lebende Räuber (...) dem hochzivilisierten Gangster Platz gemacht“ hat (S. 19), sind die „Asozialen“ nicht nur „ein wirtschaftliches Problem“ (S. 151), sondern 'stören‘ auch „die Gemeinschaft“, da unter anderem „viele Mädchen aus asozialen Familien durch körperliche Vorzüge einen sexuellen Reiz ausüben“ (S. 147). „Nicht selten“, so Jürgens wissend, „bieten diese Mädchen einen gewissen Reiz durch das Buntschillernde und zunächst Undurchsichtige ihres Wesens, das auf viele besonders einfache, gradlinige (also erbtüchtige!, P. R.) Menschen den Reiz des Fremdartigen ausübt und Interesse weckt“ (S.147f.).

Leider sind diese prä-Oswald-Kollerianischen und andere Statements eines H. W. Jürgens nicht primär Ausgeburt einer sexuell verklemmten Phantasie, sondern auch Gegenstand des Abschnitts „Soziale Sondergruppen“ in Vergleichende Biologie des Menschen. Lehrbuch der Anthropologie und Humangenetik von Rainer Knußmann aus dem Jahre 1980. Hier werden, mit (gleichem) Definitionskriterium einer 'Nichtanpassung‘ an „die gesellschaftlichen Normen“ ohne kritische Reflexion „Landstreicher, Trinker, Arbeitsscheue“ und „fahrende(s) Volk (Hausierer, Komödianten, Schausteller, Artisten), nicht in die Gesellschaft integrierte Psychopaten (Sonderlinge) und die Prostituierten“ in die „Asozialen„ -Gruppe eingereiht (S. 366f.). Wenngleich R. Knußmann heute diese Passage als „mißlungen“ betrachtet, welche in dieser Form in der zweiten Auflage nicht mehr erscheinen soll (Autor brieflich), so zeigt sich doch offensichtlich, daß die gern vorgenommenen Einschnitte „1945“ und „jüngere Gelehrtengeneration“ nur ein nach außen gewendetes Deckmäntelchen gleich gebliebener Inhalte und Wissenschaftsüberzeugungen ist. (...)

Peter Raulwing, Bonn (BRD)

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