: Wie verführt Arno Schmidt?
■ Einige Bemerkungen, vorzugsweise zum Frühwerk
Von Elke Schmitter
Arno Schmidt war, dem Vernehmen nach, kein geselliger Mensch. Wie viele Schriftsteller dieses Jahrhunderts, die etwas auf sich halten, blieb er einsam, nach Möglichkeit auch unverstanden. Er gönnte sich jede Bosheit, jede Schadenfreude, jeden Fingerzeig auf die Schwächen der fiktiven und realen Personen, mit denen er sich umgab. Allerdings sind es im Regelfall die Männer, die seinem rechtschaffen scharfen Blick zum Opfer fallen; er scheint sie ernster genommen zu haben. Seine berühmten Radiosendungen: Männerfreundschaften, zumeist. Eine Art überzeitlicher Stammtisch, den er einberufen hat, um endlich unter Gleichen zu sein und die rauchige, streitlustige Luft zu atmen, die der deutschen Eckkneipe eigen ist. Gibt es einen Ort, der Erotik deutlicher ausschließt?
Seit Frauen über die Literatur von Männern schreiben dürfen und gelesen werden, wird eine Klage geführt: sind wir nicht so schön wie Emma Bovary, haben wir kein Anrecht auf Romantik. Sind wir aber so schön wie Emma, so leidenschaftlich wie Anna Karenina, so verführerisch wie Nana, so müssen wir es bitter büßen: Der Augenblick, gelebt im (falschen) Paradiese... Natürlich ist einzuwenden: Dies ist neunzehntes Jahrhundert. Was aber macht das zwanzigste aus, gibt es einen wirklichen Epochenwechsel in der Geschichte der Liebe, die Männer schreiben?
Aus dem ersten Weltkrieg kommen die Männer mit zerschlagenen Gliedern heim, ihre Haut ist vom Gas verwüstet, ihre Körper wurden hart bestraft. Doch auch die Frauen sind älter geworden unterdes. Wo sie als Frauen nicht gestorben sind, zeigen sie sich nun kokett, ein Spiel mit Strapsen um Tabak beginnt. Eine kurze Epoche lang ist man zu hastig für Romantik, die Küsse sind bitter und schnell, und die Laken sind schon grau, bevor man sich auf ihnen niederlegt zu verzweifelter, blinder Umarmung. Schönheit ist nicht mehr der Königsweg zur Erotik; Freud und der Krieg haben den Sexus befreit, und Sublimation ist eine ironische Metapher.
Von dieser Destruktion des Mythos von Schönheit und Verführung wird sich die Literatur nicht mehr erholen. Wo nicht Alkohol den Blick vernebelt und alte Bilder evoziert, muß ein neuer Einsatz das alte Spiel bestimmen. Bevor es dazu kommen kann, wütet der Zweite Weltkrieg mit einer neuen Attacke auf die geschienten, geschundenen Körper und auf die nachgewachsenen gesunden Leiber, die, kaum zwanzigjährig, in den Alptraum der Verstümmelung geschickt werden. Wer zurückkommt, der findet veränderte Frauen vor, wie schon fünfundzwanzig Jahre zuvor. Dem Bürgertum ist nicht das Rückgrat, doch es sind ihm die Knochen gebrochen worden. Die Emanzipation ist nicht intellektuell, aber praktisch dort vollzogen worden, wo die Notwendigkeit es gebot. Schnell werden neue Korsetts erfunden, die formen die Kurven nicht nur, die geben auch den Blick auf die Linien des Fleisches frei. Das Profil ist eine optische Verführung, der Hüftschwung eine haptische.
Das Gesicht
der Ankunft
Die Liebe kommt zum Greifen nah, selbst dort, wo Hollywoods Glamour Distanz gebietet und die deutsche verlegene Sondermischung von Bubikragen, Küchenschürze und Seidenstrumpf die Schwüle zu verdrängen sucht. Der Versuch der Kulturindustrie, die heile Romantik heiler Leiber und Liebe neu zu beleben, wird von der Literatur nicht aufgenommen. Die ehrlichsten der deutschen Schriftsteller definieren Unschuld und Erotik neu. Unter ihnen: Arno Schmidt.
Seine Frauen sind nicht schön, er hat sie nicht nach Schönheit ausgesucht. Die Literatur der Liebe hatte sich müde gearbeitet an dem Beweis, daß ein schönes Gesicht oft nichts als eine böse Täuschung ist, die Entlarvung ihren Wert verloren. Nur noch die Eintagsfliegen summten um den alten Honig. In der deutschen Nachkriegszeit wurde ein neues Gesicht bei den Frauen gesucht. Man könnte es das Gesicht der Ankunft nennen.
Ein zweiter großer Romanautor der fünfziger Jahre, der die ungewollte Lektion der Zerbrechlichkeit der Glieder gelernt hat und nie wieder vergessen wurde, schrieb einen kurzen, atemlosen Roman über eine Begegnung mit diesem Gesicht. Der Held, ein junger Mann, ist vom Hunger geprägt, es quält ihn das Verlangen nach dem Einfachsten, dem Elementaren: dem Brot. Er holt eine junge Frau am Bahnhof ab, und er verfällt ihr im Moment des Erkennens: „Dieses Gesicht ging tief in mich hinein, drang durch mich hindurch wie ein Prägstock, der statt auf Silberbarren auf Wachs stößt, und es war, als würde ich durchbohrt, ohne zu bluten, ich hatte für einen wahnsinnigen Augenblick lang den Wunsch, dieses Gesicht zu zerstören, wie der Maler den Stein, von dem er nur einen einzigen Abdruck genommen hat.“ Dieses Gesicht ist Entdeckung und Ankunft zugleich, darin ein Mund, der niemals Brot verweigern würde. Dieses Mädchen ist nicht schön, und es verführt gleichsam katholisch: durch seine Güte, durch seine madonnenhafte Anmut und die Unschuld eines Menschen, der sich fürchtet. Der Held begehrt eine Wahrheit, die er als die seine erkennt, sein Verlangen ist erotisch, ohne die alten Requisiten zu bemühen. Die Werbung ist keine kalkulierte, gerüschte Maßnahme, sondern das Zeigen einer Wunde.
Arno Schmidt war Anti-Romantiker aus tiefster Seele, und seine Helden sind es auch. Sein Frauengesicht hat einen „blassen, klaren Mund“ und „spöttisch kalte Augen“, es ist die Verheißung von Härte und Gewißheit, von Tapferkeit ohne Pathos. Die Wahrheit des Paares ist eine des Davon-gekommen -Seins, des kühlen und bitteren Blicks auf die Trümmer der Geschichte.
Fest geschlossene Lippen wollen geöffnet sein, Lippen, die keinen romantischen Satz mehr sagen können. Lore und Grete, die Heldinnen ausBrand's Haide, sind Überlebende, wie der Erzähler einer ist. In ein verlassenes Dorf verschlagen, wehren sie sich ihrer Haut nicht gegen Verführung, sondern gegen Vergewaltigung, Kälte und den Stiefeltritt der Macht. Es gibt nur eine Art der Eroberung: die des Respekts, der Kameradschaft, des kurzen Blicks am Küchentisch, über Kartoffelschalen. Der Held stirbt seinen letzten romantischen Tod, als es gilt, der Lore, um die sein Begehren kreist, seine schmutzige Wäsche zur Wäsche zu geben: er hat nur diese eine Garnitur... Wir sind nicht mehr bei Hofe. Das Dekollete der Armut hat das der Üppigkeit ersetzt.
Die erotische Dialektik des Erkennens verläuft als ein Abtausch von Provokationen, ist auch ein Kampf um Anerkennung inmitten eines Alltags, durch den mit Stetigkeit ein rüder, eiskalter Wind pfeift. Die Existenzen sind aus ihren alten Bindungen versprengt, sie stehen in zu dünnen Mänteln da und frieren, jeder Fremde hat Hunger, er ist ein Feind. Der Alltag ist eine schorfige, schmutzige Wunde, die Liebe kann ihn heilen.
Wer deutschen Materialismus sucht: hier ist er zu finden
Es gibt keinen langen Weg vom Augenblick zur Umarmung. Mit dem Altern Arno Schmidts wird er kürzer werden, bis die neu geformten Vokabeln der Lüste mit der Semantik des Alltags zu einem einzigen Gewebe verwirkt sind. Jedoch von Anfang an bedarf der Eros keiner Entschuldigung. Das Erbübel, ein Leib zu sein, hat der Autor auf die realen Übel reduziert: Krankheit, Alter, das Knacken der Knochen. Doch wie die Scham überwunden ist, so ist es auch ihr Gegenstück: das schwüle Ausreizen aller Möglichkeiten, die komplexe, raffinierte Steigerung der Lust taucht bei ihm nicht auf. Eher kommt es zu den Handgreiflichkeiten der Provinz, ein Zwicken, ein Schlag auf den Hintern, während das Sauerkraut zieht. Wer deutschen Materialismus sucht: hier ist er zu finden; der Körper ist ein Instrument, auf dem sich recht schön spielen läßt.
Das gilt für Mann und Frau. Eros ist der Schatten beider Geschlechter, gleichgroß, nur in der Silhouette verschieden. Vor der proletarischen Frau hat die Verleugnung des weiblichen Begehrens in Literatur und Wirklichkeit stets Halt gemacht. Es fiel dem Gewissen leichter, das Dienstmädchen mit den starken Trieben zu schwängern, die man an der eigenen Frau und Mutter nicht wahrnehmen wollte. Auf dieses Unterscheidungsmerkmal der Klassen - Eros als Lust und als Notwendigkeit - hat das Bürgertum lange gepocht, es markiert den Abstand von Kultur zu Natur. Arno Schmidt ist der Intellektuelle als Proletarier, den eine mögliche Schwangerschaft mehr beschäftigt als eine Verletzung der Ehre. Die gegenseitige Befriedigung ist eine Kunst, die keines Piedestals bedarf; der Körper ist zu sich selbst gekommen.
Die Heimat seiner Romane ist das flache Land. Die Frauen, die den Ich-Erzählern des Autors begegnen, sind (wen wundert das?) ungebildet, aber lernwillig: der Mann als Pädagoge. Es gelingt ihm, diese durchweg willensstarken Geschöpfe seiner Wahl nicht nur über den, sondern auch neben sich an den Tisch zu ziehen: Dort sitzen sie, mit offenem Mund über Folianten gebeugt, bestaunen die Arbeit des Meisters, bis die Kartoffeln verkochen. Die Hausfrauen haben es schwer, unsere Sympathien zu erringen, man riecht Seifenlauge und Blutwurst und hat eine keifende Stimme im Ohr. Sind die Verhältnisse einmal häuslich geworden, legt sich ein kleinkariertes Wachstuch über alle Hoffnungen, und da die Figuren nicht weinen, streiten sie sich.
Es mufft eine dumpfe Piefigkeit durch diese Ehen, es ist nicht weit zu Nudelholz und Männerwitz: die üppige Fünfziger -Jahre-Hausfrau, die backt und kocht und bohnert und all dies, soweit sie sexuell in Frage kommt, mit maulig verzogenem Kirschmund tut. Sie nimmt am Geistigen nicht unwillig teil, ist das Leibliche einmal erledigt. Sie ist die Frau - wenn es denn eine richtige ist -, die für die Liebe im Grünen die Schinkenbrote mitzunehmen nicht vergißt. (Um dann die Ausdauer des Mieters zu bewundern: „'Donnerwetter!‘ flüsterkeuchte sie“...) Die jungen Frauen, die alleine leben oder auch geschieden sind (was dem Erzähler immer einen ehrlich protokollierten ersten Schreck durch die Glieder fahren läßt), haben es leichter, weil sie formbarer sind und beim Erzähler weniger Ängste auslösen: Es wird keinen Machtkampf geben.
Küche, Kinder,
Krieg
Die Frauen bei Arno Schmidt herrschen gern, sie sind kaltschnäuzig und aggressiv, aus Stolz, Erfahrung und Notwendigkeit. (Wo sie es nicht sind, sind sie auch nicht des Begehrens wert.) Solange es sich nur um Charakter handelt, sind die Verhältnisse spannend und erotisch, hat die Frau aber einmal die Macht, lehrt uns Arno Schmidt, dann wird sie diese Macht mißbrauchen: Küche, Kinder, Krieg.
Es wundert nicht, daß die Provinz überall zu spüren ist. Die Frau ist dem Mann geistig keine Partnerin, sondern bestenfalls gelehriges Echo, das mit kleinen, klugen Bemerkungen seine Lernfähigkeit beweist. Im Kampf ums bloße Dasein erweist sie sich als tapfer, unabhängig, gerade und kraftvoll wie ein Pfeil. Droht jedoch der Wohlstand, versinkt sie schnell in Behäbigkeit, sie ist der Freizeit nicht gewachsen. Selbst Tina Halein, die den Helden (von dem sich der Autor keineswegs distanziert) im Aufzug ins Elysium entführt (Tina oder die Unsterblichkeit), schrieb zwar Romane, räumt allerdings freimütig ein: „90 Prozent sind schon als Makulatur weg.“
Die beiden stehen sich in der kleinen Kabine zur Ewigkeit schwer atmend gegenüber, das Leibliche zuckt Erkennungszeichen, die eiliger sind als die Sprache (und sicherer auch): Es ist wenig interessant, die großen Toten aus dem Grabe zu zerren, um ihnen ins Gesicht zu sagen, daß sie zur Emanzipation der Frau nichts oder wenig beigetragen haben. Der junge Autor Schmidt ist noch nicht der pedantischen und speziell frauenfeindlichen Misanthropie verfallen, welche die Lektüre seiner „großen“ Schriften so ermüdend macht, wem es an privater Galle fehlt.
Der lieblose Blick auf die Megäre im Butterbrotpapier, die seine Tage zuschanden macht: hier gibt es ihn noch nicht. Wo es nach Sauerkraut riecht, daß man sich beim Lesen die Nase zuhält, gibt es auch ein befreites Lächeln, das vielleicht daher rührt, daß hier ein Autor ohne Programm Sozialprotokolle schreibt. Und Arno Schmidt ist vielleicht der einzige Roman-Schriftsteller von Rang, der die Scham einer Frau des zwanzigsten Jahrhunderts, den erbarmungslosen Direktiven der Schönheitsnorm nicht zu entsprechen, zum Gegenstand poetischer Rührung machen konnte: Pocahontas ist die zickigste, erbarmungswürdigste und glücklichste Geliebte unserer hochglanzgeschminkten Zeit.
Selma Wientge, gegen 30, Büroangestellte: „6 Fuß groß; weißgelb geringelt im zaundürren Wespenkleid, 'Wie die Alten den Tod gebildet'; endlose Armstöcke, tiefbraune, knieten vor ihr auf dem Tisch (...) Sie war wirklich erstaunlich häßlich. Zuerst.“ Der Held dieser merkwürdigen Liebesgeschichte fährt mit einem Kumpel aufs Land, aus der Provinz in die Provinz, Urlaub in der Pension. Da muß man nehmen, was kommt, ist man auf Abenteuer aus, das Angebot ist spärlich, dieser holzige Spargel blieb übrig. So weit, so Mann, sagt sich die Leserin und schaudert. Daß der Erzähler selbst mit Schönheit nicht überreich gesegnet sein mag, bleibt selbstverständlich unerwähnt; insofern: alles wie gehabt. Doch dann “'Ich glaubs nich‘, sagte sie düster: 'ich seh doch aus - wie ne Eule?!‘ und wartete verzweifelt auf Widerspruch, hoffnungslos, mit ungeschminkt verzerrtem Mund und hagestolzernen Augen. Ich faßte ihre Hände unter Wasser und verbot ihrs mit dem Kopf: kein Wort mehr gegen 'Pocahontas‘ sagte ich leise.“
Der Mann als schnalzender Richter des Eros
Gewiß: das ist alles in jenem Rahmen, der längst Sprünge im Holz hat, der Mann als schnalzender Richter des Eros, dessen Fleisch so sehr Geist geworden ist, daß es mürbe und faltig sein darf. Er erträgt das Bild ihrer Häßlichkeit nicht, so macht er Anleihen bei den Bildern im Kopf: “'Wieso „Pocahontas“??‘: 'Ne indianische Prinzessin!'„; denn: „lachsrote zarte Fiederkiemen als Blume hinter jedem Ohr: das sah sehr hübsch und ukulele aus.“ Selma Wientge ist die Verkörperung der Scham, als der Erzähler sie trifft. Dafür kann er nichts: Er tritt ein Erbe an, das er nicht in Frage stellt, aber es ist immerhin ein Erbe, auch das seine.
Sein Blick ist der des zwanzigsten Jahrhunderts, der das Fleisch auf der Waage prüft, bevor er es in die Arme nimmt. Er ist nicht besser, als: die Männer? sind, er ist der König auf dem Denkmal der Provinz, der nach dem Schweinefleisch das Frauenfleisch goutiert, der denkt: „(wenn ihr bloß manchmal das Gesicht im Nacken stände!)“. Aber er denkt es eingeklammert, und wenig später denkt er anderes: “...auch mein Herz trabte überraschend an, und endlich ließen wir alle Oghams und Futharks beiseite, und sagtens uns frei heraus: wie hübsch wir wären, undsoweiter.“
Es hat sich etwas Bahn gebrochen, das jenseits des Erwarteten liegt, für das Opfer und den Richter. “'Meine Größe! Und zu kurz sintse tatsächlich‘, hielt mir auch Glied und Hülle als Beweis hin - : !, vergleichende Anatomie, und ich hatte viel zu messen und zu rühmen.“
So geht es, bis zum „Trauerkleid der letzten Nacht“. Die Welt dreht sich nicht anders herum. Es bleibt ein Abenteuer. Die lange, braune Indianerin reicht „sich stumm zum letzten Biß“. Und nach dem knappen Abschied rühmt der Kumpel „Erich, unverwüstlich, schon wieder die Autobusschaffnerin“, während der Erzähler sich den letzten, gefühlvollen Satz gönnt: „Mein Kopf hing noch voll von ihren Kleidern, und ich antwortete nicht.“
Selma Wientge bleibt zurück. Sie wird weiter stenographieren, tippen, Briefumschläge kleben. Sie wird in der Stadtbücherei unter dem Stichwort „Pocahontas“ ein Lexikon aufblättern, vergeblich. Sie wird vermutlich ihre Glieder anders tragen, weniger unbeholfen und traurig, weniger verlegen schlenkernd. Sie wird ein Geheimnis haben, Salbe für die wundgescheuerten Gedanken der Scham, ein solcher Leib zu sein. Sie war einmal Emma, Anna und Nana zugleich, die häßlichste Geliebte der Literatur. Wir können sie den fünfziger Jahren nicht entreißen. Aber wir können staunend konstatieren, was da, inmitten von Sexus und Provinz, entstanden ist: ein Ort der scheuen Zärtlichkeit.
Der Mythos von Verführung, Schuld und Scham
Wir können nur darüber spekulieren, warum diese Zärtlichkeit verlorengeht. Je akribischer der Autor arbeitet, je vertüfelter er der Sprache auf den Grund geht, je heftiger er jeden Satz zerstückelt, um so endgültiger geht ihm das weiche Gewebe verloren, das er einmal zur Sprache gebracht hat. Der Autor als älterer Mann: er sieht weniger besessen als verbissen aus. Abend mit Goldrand ist das vielleicht bösartigste, sicher aber verzerrteste Bild der Pubertät in der Literatur; kleine, vor Lüsternheit unruhige Mädchen, die durchtrieben um „das Eine“ kreisen unter den scharfen Augen des Autors... Es wirkt ebeno peinlich wie die gehauchten, geflüsterten, anbetenden Bestätigungen der Potenz der Erzähler, die sein Werk durchziehen und die er immer nötiger zu brauchen scheint.
Der Mann hat dem Schmetterlingsforscher Platz gemacht: die lieblichen Geschöpfe zappeln unter seiner Hand, bis er sie, fleißig und genau beschriftet, zu den übrigen Exemplaren legt. Der unermüdliche Forscher in Bargfeld, der, aus allen Vereinen ausgetreten, nun seine Phantasien collationiert.
Epochenwechsel. Es gab eine Phase der doppelbödigen Anbetung, voller Frauenfiguren, die in Schönheit und mit schwerem Herzen starben, ihrer Verfehlungen eingedenk. Das Leben zu kosten hieß, daran zu sterben; schön sein hieß, eine Legende zu bewohnen; Verführung hieß die Blendung durch den schönen Schein. Der schwärmerische Blick wich einem grübelnden, bis schließlich, zwischen den beiden Kriegen, das kalte Röntgenauge des Arztes bis in die Eingeweide sah. Dann mußte etwas Neues sich einstellen, ein neues Scharnier entwickelt werden, Gefühl und Körper zu verbinden. Der Mythos von Verführung, Schuld und Scham blieb der Kulturindustrie überlassen und zuckt dort noch bis heute. Dem radikalsten Materialisten unter den neuen Schriftstellern gelang es in wenigen frühen Werken, unsere Augen für das Mögliche zu öffnen. Inmitten der reinsten Armseligkeit und tief in der schäbigsten Provinz beschreibt er Begegnungen von Menschen mit noch klammen Gliedern, gelötet an der Notwendigkeit des Überlebens, die eine kurze, verlorene Umarmung lang das Weiche spüren, das sie begehrenswert macht.
Ich habe mich im wesentlichen auf die (frühen) Kurzromane Brand's Haide, Aus dem Leben eines Fauns, Das steinerne Herz und Leviathan bezogen.
Dieser Aufsatz, der von uns gekürzt wurde, erscheint im Herbst in einem Sammelband („Arno Schmidt - Leben, Werk, Wirkung“) beim Rowohlt Verlag.
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