: Deutsche Einigung überstürzt sich
■ „Wir sind ein Volk“, riefen die Massen auf den Straßen der DDR. Tempo auf dem Weg zur Einheit war populär. Nun scheint sich die CDU aber zu verstolpern. Der Entwurf für ein Wahlgesetz, das Bundestag und Volkskammer nicht einmal zugeleitet worden ist und nach dem dennoch in 72 Tagen schon gewählt werden soll, verletzt elementare Prinzipien der parlamentarischen Demokratie.
Staatsrechtler haben Bedenken gegen Wahlvertrag
Maxie Millian ist empört. Da hat die große Koalition von CDU/CSU/ DSU/SPD/FDP einen Wahlvertrag ausgeheckt, der sie, Bürgerin der DDR und Anhängerin der Bürgerrechtsbewegungen, grob benachteiligt. Will sie am 14. Oktober oder am 2.Dezember in der Wahlkabine etwa das Bündnis90 ankreuzen, so kann sie schon heute davon ausgehen, daß ihre Stimme verlorengeht.
Die nötigen fünf Prozent aller Wählerstimmen bekommt das Bündnis nämlich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht. Und von den Grünen-West, die diese Hürde wohl nehmen werden, darf es nicht Huckepack genommen werden. Und zwar nur deshalb nicht, weil beide im selben Gebiet zur Wahl antreten - sprich: nach Bonner Lesart miteinander „konkurrieren“.
Frohgemut kann dagegen Maxie Millians Nachbarin dem 14. Oktober oder dem 2. Dezember entgegensehen. Sie sympathisiert mit der DSU. Und die wird den Sprung ins gesamtdeutsche Parlament schaffen - auf dem Rücken der CSU. Da die Bayernpartei sich nur in Bayern den Wählern stellt, ist sie nach dem neuen Wahlgesetz keine „Konkurrentin“ der DSU und darf diese mitziehen. Maxie Millian leuchtet das nicht ein. Sie erwägt, das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe anzurufen.
Gerichtlich kämpfen oder die Wahl boykottieren? Wenn sich die Bürgerrechtsbewegungen für die erste Variante entscheiden, wird nicht die fiktive Maxie Millian, sondern eine real existierende Wählerin des Bündnis90 nach Karlsruhe gehen. Mit dem Thema befassen müssen sich die hohen Richter allerdings auch, wenn die Bürgerrechtsbewegungen sich für einen Boykott entscheiden: Klagen wird die PDS. Klagen werden auch die „Republikaner“. In Karlsruhe klageberechtigt sind Wähler der betroffenen Parteien oder die Parteien selbst.
Maxie Millian beantragt, per „einstweiliger Anordnung“ den Vollzug des Wahlgesetzes erst einmal auszusetzen. Ihre Begründung: Das neue Wahlgesetz verletze ihr Recht auf Gleichheit bei der Wahl, festgelegt in Artikel 38 des Grundgesetzes. Zweierlei muß zunächst erfüllt sein, damit Maxie Millian einen Erfolg davonträgt: Ihre Beschwerde darf nicht „offensichtlich unzulässig“ oder/und offensichtlich unbegründet sein.
Innenminister Wolfgang Schäuble und seine Kohorten geben sich siegesgewiß: Auf keinen Fall könnten die Verfassungsrichter eine solche Klage für zulässig erklären. DDR-Bürger seien nämlich gar nicht antragsbefugt, weil das Grundgesetz für sie nicht gelte. Die Politiker geben sich sicher. Experten sehen es anders. „Keine entscheidenden Bedenken“, antwortet etwa Hans Meyer auf die Frage, ob ein DDR-Bürger überhaupt antragsbefugt wäre. Der Frankfurter Professor für Verfassungsrecht und renommierte Wahlrechtsexperte argumentiert so: Sobald der Beitritt der DDR wirksam werde, gelte das Grundgesetz für alle Deutschen. Nur weil das Wahlgesetz vor dem Beitritt in Kraft trete, könne man den DDR-Bürgern ihr Grundrecht aus Artikel38 nicht absprechen. Dieses Grundrecht wäre am Tag der Wahl jedenfalls berührt, vielleicht sogar verletzt, und „es wäre nur peinlich, wenn wegen dieser Terminlage den DDR-Bürgern der Rechtsschutz verweigert würde“.
Die Karlsruher Richter könnten also durchaus Maxie Millian formal den Schutz des Grundgesetzes zusprechen. Nun müßte Maxie Millian die Richter noch davon überzeugen, daß der Vollzug des neuen Wahlgesetzes ihr Recht aus Artikel38 verletzen würde. „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in (...) gleicher (...) Wahl gewählt“, schreibt dieser unter anderem vor. „Die zwei Prozent meiner Bürgerrechtsbewegungen würden für den Sprung ins Parlament nicht reichen. Die fünf oder mehr Prozent anderer Parteien genügen dagegen. Ergo verletzt schon alleine die Fünfprozentklausel mein Grundrecht auf Gleichheit der Wahl. So etwa könnte sich Maxie Millian in Karlsruhe äußern. Dies müßte die Richter eigentlich überzeugen. Ungleich behandeln darf der Staat nämlich nur, wenn dies eine „höherrangige Verfassungsbestimmung“, als sie der Grundsatz der Gleichheit ist, gebietet.
Als eine solche höherrangige Verfassungsbestimmung galt dem Bundesverfassungsgericht in seinen Urteilen zur Sperrklausel immer die Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Parlaments. Dieses, so die Richter bisher, dürfe nicht durch Splittergruppen beeinträchtigt werden. „So weit akzeptiert“, könnte der Anwalt von Maxie Millian einwenden, „hier liegt die Sache jedoch anders“: Mit dem Huckepackverfahren hätten manche Splittergruppen wie die DSU die Möglichkeit, ins Parlament zu rutschen - andere wie das Bündnis90 nicht. Also sei das Huckepackmodell nicht geeignet, das Parlament vor Splittergruppen zu bewahren. Also sichere es nicht dessen Arbeitsfähigkeit. Also sei es verfassungswidrig.
Ach, würde Wolfgang Schäuble hier in seiner launigen Art einwerfen, wegen der besonderen Situation könne man eine Ausnahme von der strengen Handhabung der Fünfprozenthürde mal machen. Recht hat der Minister - und ist doch im Unrecht. Die Fünfprozenthürde alleine ist nämlich schon eine Ausnahme: Vom Grundsatz der Gleichheit der Wahl. Die Fünfprozenthürde in Verbindung mit dem Huckepackverfahren ist also eine Ausnahme von der Ausnahme. Und als solche muß sie ebenfalls an der Legitimation für eine Hürde - also der „Arbeitsfähigkeit“ - gemessen werden. Wolfgang Schäuble und den großen Koalitionären von Bonn und Ost-Berlin bliebe also nur noch, so zu argumentieren: Jene, die einen Huckepackpartner finden, der nicht in ihrem Gebiet antritt, sind keine die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigenden Splittergruppen - also dürfen sie rein. Die anderen sind es
-und müßen draußen bleiben. Und dies ist eine Argumentation, die nach Ansicht von Verfassungsrechtler rechtlich nicht ausreicht.
Würden die Karlsruher Richter Maxie Millian und ihrem Anwalt bis zu diesem Punkt beipflichten, so hätten die beiden noch eine letzte Hürde zu nehmen. Es müßten nach Ansicht des Gerichtes die entstehenden Nachteile größer sein, wenn erst gewählt wird und sich danach herausstellt, daß das neue Wahlgesetz verfassungswidrig war, als wenn das Gericht dem Antrag stattgeben und sich in einem Hauptsacheverfahren nach der Wahl herausstellen würde, daß das Gesetz verfassungskonform war. Und genau hier könnte die Richter der Mut verlassen. Sie haben möglicherweise Angst, sich den Vorwurf einzuhandeln, die Einheit umsonst hinausgezögert zu haben, wenn sich später herausstellen sollte, daß das Gesetz doch in Ordnung war. Aber vielleicht finden sie die Courage ja doch noch. Am Donnerstag abend meldete jedenfalls 'dpa‘, daß einige Karlsruher Richter informell verfassungsrechtliche Bedenken gegen das neue Wahlrechtsmodell geäußert hätten.
Ferdos Forudastan
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen