: Um die eigene Achse wirbeln
■ Tanz in Avignon: Philippe Decoufles „Triton“
und Wim Vandekeybus‘ „Das Gewicht der Hand“
Von Jürgen Berger
Er ist noch keine dreißig Jahre alt, aber die Franzosen kennen ihn bereits seit acht Jahren: Philippe Decoufle, ein Tänzer, den es nach seiner Ausbildung im New Yorker Merce -Cunningham-Studio sehr schnell zur Regie trieb, ist einer der interessanteren jungen französischen Choreographen und zudem ein Schützling von Kulturminister Jack Lang.
Es versteht sich also, daß der Minister die jüngste Kreation Decoufles schon in Avignon sehen wollte, obwohl er sie in Kürze im Pariser „Theatre de la Ville“ begutachten könnte. Kultur ist Chefsache in Frankreich, und der Chef will sofort wissen, was Sache ist. Daß seinem Schützling einmal die Phantasie versiegen könnte, braucht Jack Lang kaum zu befürchten - eines kann Decoufle jetzt schon perfekt: sich in seinen eigenen Choreographien persiflieren wie ein Kind, das ein Spielzeug auseinandernimmt, um sich an den Einzelteilen zu ergötzen.
Allerdings braucht selbst phantasievolle Spielerei einen Anhaltspunkt, und den holte Decoufle sich in Form des „Triton“, eines Meeresgottes mit Fischunterleib, Sohn des Poseidon. Was kommt heraus, wenn man dessen Bewegungsart in Tanz umsetzt? Im Wasser ein schwebend-schlängelndes Gleiten, während er an Land geworfen wohl wie eine Robbe kriechen würde. Hierfür findet Decoufle immer neue Bilder und hängt eine Tänzerin und einen Tänzer gar auf - an einem Seil miteinander verbunden, das hoch oben über eine Rolle läuft. Jede Bewegung des einen wird durch den anderen ergänzt oder gestört, je nachdem, ob sie sich einig sind oder nicht. Die beiden hoppeln, schweben in Schlangenlinien, versuchen sich auszutricksen. Ein kindlich-brutales Spiel mit Phasen der Harmonie. Hätte es Decoufle dabei belassen und seinen Tanzabend mit den Bewegungseinfällen zum Triton bestritten, wäre witziger und thematisch zentrierter Tanz herausgekommen.
Aber Beherrschung scheint nicht seine Stärke zu sein, und so wird aus einem Tänzer und einer Tänzerin plötzlich ein Paar, das sich im Zaubern versucht. Das hat insofern etwas mit Tanz zu tun, als die stilisierten Bewegungen der Magiere in der Persiflage eine eigene Qualität gewinnen - von seiner ursprünglichen Tanzidee entfernt sich der Choreograph dadurch aber weit.
Ein Schwäche, wie man sie bei jungen Choreographen in Frankreich häufiger beobachtet. Die Tanzidee ist nicht stark genug, um einen Abend zu füllen, und flugs wird ausgeschmückt. Tanzdimensionen wie bei der derzeit wichtigsten französischen Choreographin Maguy Marin, die letztes Jahr in Avignon wohltuend die Revolutions-Euphorie der Franzosen konterkarierte, erreichen sie (noch?) nicht. Philippe Decoufle ist zwar nicht so selbstverliebt wie einige seiner Kolleginnen und Kollegen, aber gegen unnötigen Schmuck hat auch er nichts einzuwenden.
Ähnliches läßt sich von Wim Vandekeybus sagen, einem belgischen Choreographen, der jetzt in Frankreich Fuß faßt und mit seinem Gewicht der Hand nach Avignon eingeladen wurde. Er hatte wohl Angst, sein Tanzabend könne auf dem Festival nicht genügend Beachtung finden. Wie sonst wäre erklärbar, daß er Tanz für drei Abende auf die Bühne hievt? Die Menge ist sein Problem nicht, nur: Was will er eigentlich? Einen Weltrekord in der Aneinanderreihung choreographischer Sequenzen und vermeintlicher Schlußpunkte aufstellen, die selbst geübten Theatergängern immer wieder die Applaushand zucken lassen? Und dabei hat es vielversprechend begonnen. Vandekeybus arbeitet mit den Musikern Thierry de Mey und Peter Vermeersch zusammen, und einer der beiden eröffnet den Abend mit einer Percussion -Einlage auf elektronisch verstärkter Spanplatte - und das im „Cloitre des Carmes“, einem ehemaligen Karmeliterkloster, heute der schönste Spielort Avignons mit überragender Akustik.
Es hämmert, trippelt, knallt und flüstert ein- und beidhändig in der Nacht, während zwei Tänzer auf dem Boden liegen und atemberaubend nach den Spanplatten-Knallern zucken, um die eigene Achse wirbeln, über die Schultern schnellen, aber unter dem Gewicht der Hände nie die Horizontale erreichen. Das hätte, weiter ausgebaut, einen kleinen und in sich stimmigen Tanzabend ergeben. Aber dann kommt ein kleines Orchester hinzu, zwei Pianisten, und auch in der Musik geht es nach dem Motto weiter „Besser zuviel als zu wenig“. Zwar ist es angenehm, einmal nicht eine schnell gemischte Synthesizer-Soße über sich ergehen lassen zu müssen, aber über weite Strecken wirkt der Live-Klang genauso strukturlos wie der Tanz. Und dort kann man neben den üblichen Tanztheater-Riten der Geschlechter auch Brimborium goutieren: Die Tänzer zündeln mit Lunten, was demnächst auch in Paris zu sehen sein wird.
Was Avignon dieses Jahr in der Abteilung „zeitgenössischer Tanz“ bot, war enttäuschend. Nächstes Jahr, das steht jetzt schon fest, soll Karine Saporta kommen, eine Choreographin, die kaltblütiger ans Werk geht. Und neben den aktuellen Theater-Produktionen will man traditionsgemäß thematische Schwerpunkte präsentieren.
Nachdem die freien Truppen im Dschungel der unzähligen Off -Bühnen Avignons schon dieses Jahr Heiner Müller zu ihrem Liebling kürten, will das offizielle Festival nachziehen: „Der Fall Müller“ soll verhandelt werden, während im Tanz die Arbeit von William Forsythe präsentiert wird. Der Leckerbissen kommt aber aus den USA, in Gestalt der Avantgarde-Komponistin Meredith Monk.
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