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Hier Dreiergruppe „Meine höchste Tochter“

■ Charlotte Niemann über ihre Jugend in Altona

Es handelt sich (bei diesem Foto von 1907, d.Red.) um meine Großeltern und Mutter.

Jenseits der (Altonaer, d.Red.) Stresemannstraße hieß die Lerchenstraße (so lange ich denken kann) Nachtigallenstraße. In einer der Kellerwohnungen (Gemüseladen neben Schlachter neben Bäcker gegenüber der Sargtischlerei) bin ich geboren, lebte da bei diesen Großeltern, die sich 1911 mit einer kleinen Schneiderei seßhaft gemacht hatten. Neben dem (jetzt so knallrot gestrichenen) niedrigen Häuschen gegenüber, einer Kneipe, führte ein Gang in den Pferdestall. Darin verbrachte ich alle Nachmittage (kommt mir jetzt so vor).

Das ist schon alles: ein Keller (hinten ein winziger Garten mit Blick auf die schwarze Brandmauer), immer (und heute noch) den anheimelnden feucht-warmen Stallgeruch in der Nase, ein paar Quadratmeter Straße, auch ein paar Bäume, das war die Heimat.

Meine frühesten musikalischen Eindrücke: der Garten hatte eine Laube, in der meine Leute sommerabends musizierten (die Märsche und Walzer ihrer Varietenummern), während die Nachbarn vom ersten bis zum vierten Stock über der Balkonbrüstung lagen und zuhörten. Natürlich mieteten sich die Großeltern hier in der Nähe des Schillertheaters ein, kamen hierher über London, Berlin, wo meine Mutter schon als Kind im Zirkus Busch Kautschuk gearbeitet hatte, später lief sie Seil, und ihre jüngere Schwester (wird gerade 80) erzählte mir erst jetzt von ihren Auftritten im Schillertheater, Kinderhauptrolle im Märchen „Das goldene Mutterherz“...

Auch Miss Silkin, meine Mutter, lebt noch. Sie wurde gerade 96. Sitzt da und erzählt sich ihr Leben, wenn sie nicht schläft. Sie ist auf so beeindruckende Weise verwirrt

-manchmal erkennt sie mich, wenn ich zu ihr komme. „Sie sind doch meine höchste Tochter“, sagt sie, und: „Wissen Sie, mein Köpfchen ist sehr anstrengend für mich, aber ich liebe mein Köpfchen.“ Charlotte Nieman

Anm. der Red.: Den Text von Charlotte Niemann entnehmen wir einem Brief, den sie dem Autoren Horst Königstein geschrieben hat. Abgedruckt ist der Brief in Königsteins wundervollem Buch „Die Schiller-Oper in Altona. Eine Archäologie der Unterhaltung“ (suhrkamp taschenbuch, 1983).

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