: SPD versucht's mit der Offensive
■ Sozialdemokraten für schnellen Beitritt und spätere Wahlen / Grundgesetzänderung für frühen Wahltermin abgelehnt / Plötzlich kritisiert CDU „Wahltaktik“ / FDP geringfügig zerstritten
Berlin (ap/dpa/taz) - Ministerpräsident Lothar de Maiziere und Bundeskanzler Helmut Kohl scheinen sich verspekuliert zu haben: die Bereitschaft der Sozialdemokraten, sich mit dem Argument der nationalen Verantwortung dem Wahlpoker der Konservativen unterzuordnen, strebte gestern gegen null. Übereinstimmend sprachen sich gestern Bonner und Ostberliner Sozialdemokraten für einen möglichst raschen DDR-Beitritt mit Inkrafttreten des Einigungsvertrages und gegen vorgezogene Wahlen aus. Damit scheint Kohl trotz Rückzieher - er lehnt die fingierte Vertrauensfrage im Bundestag ab und favorisiert eine Grundgesetzänderung - in die Defensive geraten zu sein. Endgültig wollten sich aber die Spitzengremien der Ost- und West-SPD erst gegen Abend festlegen.
Während die Ost-SPD zunächst schwankte, ließ sich Lafontaine interviewen - und nahezu textidentisch vom DGB -Vorsitzenden Meyer sowie IG-Metall-Chef Steinkühler Schützenhilfe geben. Der möglichst rasche Beitritt, so der Saarländer, sei „jetzt nur noch eine Frage der Absprache und der Durchführung. Nach dem Beitritt der DDR haben wir Zeit, die Wahl ordentlich durchzuführen“. Horst Ehmke, stellvertretender SPD-Fraktionsvorsitzender, präzisierte: „Ein Beitritt der DDR ist noch diese Woche möglich“ und führt fort: „Die Entwicklung in der DDR geht in einem Tempo bergab, sozial, wirtschaftlich, finanziell, daß ich nicht erstaunt wäre, wenn wir einen sehr schnellen Beitritt kriegen.“
Die Kalkulation ist simpel: tritt die DDR bei, dann ist Bonn direkt für das ökonomische und soziale Desaster der DDR verantwortlich. Gleichzeitig entfiele das Argument der Konservativen, die SPD stelle sich der „Einheit und damit dem Willen der Menschen in der DDR“ entgegen.
Lafontaine und NRW-Ministerpräsident Johannes Rau beharrten auf dem Wahltermin 2. Dezember. Bis dahin solle der Bundeskanzler, dem der SPD-Konkurrent schadenfroh zuschrieb, „auf der ganzen Linie eingebrochen“ zu sein, DDR-Politiker in seine Regierung aufnehmen und die Volkskammer Politiker in den Bundestag entsenden. Dies sei auch beim Beitritt des Saarlandes 1955 so praktiziert worden. Während Lafontaine dies sagte und sich über das „Affentheater“ ums Wahlrecht mokierte, brüteten die Genossen in Ost-Berlin noch um die Linie.
Nach den Worten ihres stellvertretenden Vorsitzenden August Kamilli wird die SPD-Fraktion in der Volkskammer am Mittwoch für einen Beitritt unmittelbar nach Abschluß des Einigungsvertrages argumentieren. Das wäre vermutlich Ende August, zu einem Zeitpunkt also, an dem die Zwei-plus-vier -Verhandlungen über die „äußeren Aspekte“ der deutschen Einheit noch nicht abgeschlossen sein werden. Möglicherweise wird die SPD einen entsprechenden Antrag vorlegen. In ihrem Tempo werden die Sozialdemokraten dann von der DSU überrundet werden. Dieser Partei ist schon seit geraumer Zeit alles wurscht, sie wird morgen im DDR-Parlament den sofortigen Beitritt beantragen.
Nicht hinten anstehen auf der Antragsliste wird die CDU/DA -Fraktion. Sie will die Verfassungsorgane der Bundesrepublik bitten, alles zu veranlassen, den 14. Oktober als Wahltermin möglich zu machen.
Zum Wahltermin äußerte sich die DDR-SPD gestern nicht definitiv. Allerdings verbreitete sich in Ost-Berlin das Gerücht, der Fraktionschef Richard Schröder plädiere für den 18. November. Dies wäre der frühest mögliche Termin für Wahlen ohne Grundgesetzänderung. Für diesen Vorschlag konnte sich gestern auch die niedersächsische FDP erwärmen. Das Bonner Präsidium der Liberalen hingegen sprach sich einstimmig für den 14. Oktober aus. Ähnlich wie CDU -Politiker meinte FDP-Graf Lambsdorff, eine Entkopplung von Beitritts- und Wahltermin hätte zur Folge, daß es für längere Zeit weder ein DDR-Parlament noch eine Regierung mit DDR-Beteiligung gebe. Er appellierte an das „Verantwortungsbewußtsein“ der Sozialdemokraten. CDU -Generalsekretär Volker Rühe fuhr die Retourkutsche: immer habe sich die SPD gegen einen Anschluß der DDR gewandt. Die Trennung von Beitritt und Wahl liefe aber darauf hinaus. Bundeskanzler Kohl versuchte es auf die sanfte Art. Offenbar im vollen Bewußtsein, einen Schritt zu weit gegangen zu sein - Verfassungsrechtler hatten den Kanzler daran erinnert, daß sie schon 1983 klargestellt hätten, ein zweites fingiertes Mißtrauensvotum zur vorzeitigen Auflösung des Bundestages sei nicht drin - ließ Kohl über seinen Regierungssprecher mitteilen, er wolle heute morgen SPD-Chef Hans-Jochen Vogel und Lafontaine für den vorgezogenen Wahltermin „gewinnen“. Nach diesem Gespräch werden sich vermutlich die Koalitionsspitzenpolitiker ihre Köpfe heiß reden.
Unterdessen wird sich in Ost-Berlin die SPD mit ihrem abgestandenen Lieblingsthema befassen: „wie, Genosse, hältst Du es mit der Koalition?“ lautet die Frage. Der stellvertretende DDR-SPD-Vorsitzende Kamilli hält es für angebracht, jetzt den Regierungsdienst zu quittieren. Auch wenn der CDU-Minister Reichenbach aus de Maizieres Vorzimmer erwartet, die Regierungskoalition werde noch diese Woche brechen - soweit dürfte es nach Ansicht von SPD-Kennern nicht kommen. Reichenbach, dessen nicht autorisiertes 'Bild‘ -Interview die Regierungssprecherin Merkel gestern in Gänze dementierte, gilt auch auch als Urheber eines weiteren Treppenwitzes: DDR-Innenminister Diestel solle Generalsekretär der CDU werden. Das wird Volker Rühe nicht vergessen.
peb
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