: 0,0 Promille fürs vereinigte Ganz-Berlin?
■ Alkohol am Steuer in der Noch-DDR / Früher halfen Promillefahrern Parteikontakte / Nach der SED die StVO: Ohne Politbüro und Alkoholverbot werden DDR-Mobilisten noch gefährlicher
Berlin. Niemand wird gerne alt. Aber in Ost-Berlin will man nicht einmal seinen 60sten Geburtstag feiern. Ab dann wird nämlich - sofern man weiterhin Auto fahren will - die Kontrolluntersuchung beim Hausarzt und möglicherweise beim Medizinischen Dienst des Verkehrswesens (MDV) fällig. Wer nicht mehr ohne weiteres schalten und walten kann, ist seinen Lappen los - theoretisch. Denn der Alltag sah bisher manches Mal anders aus, weiß Erika Plöntzke, leitende Ärztin beim MDV in der Leipziger Straße in Berlin-Mitte, zu berichten.
Wenn es um den Erhalt der Fahr erlaubnis geht, ist auch Zweitaktmotoristen jedes Mittel recht gewesen. Bis zur Öffnung der Mauer haben RentnerInnen im Arztzimmer gedroht auszureisen, wenn sie die Pappe nicht behalten dürften. Jüngere AutofahrerInnen, die zum MDV kamen, wenn sie besoffen Auto gefahren waren, drohten nicht mit Ausreise, sondern mit hochrangigen Parteikontakten. Die SED - eine heimliche Autofahrerpartei - war sich dann auch nicht zu billig und intervenierte bei der Neurologin Plöntzke. MancheR AutofahrerIn wurde gar zur DenunziantIn und schwärzte Plöntzke an: Sie habe während ihrer Sprechstunde „parteifeindliche Äußerungen“ von sich gegeben. Heute lacht die Doktorin im weißen Kittel, wenn sie davon erzählt.
Wenn mit dem Beitritt auch die Straßenverkehrsordnung der bundesdeutschen Tempoterroristen übernommen wird, entfallen die Kontrolluntersuchungen beim Hausarzt oder MDV, die ab 65 Jahren alle zwei Jahre wiederholt werden. Und wenn auf dem realsozialistischen Rüttelasphalt selbst das absolute Promilleverbot durch die 0,8-Promille-Regelung ersetzt werden sollte, wird es auf DDR-Straßen noch weit unsicherer zugehen als in den Avenues amerikanischer Billigkrimis. Denn trotz totalen Alkoholverbots werden in der DDR jährlich 28.000 Führerscheine eingesammelt, weil ihre BesitzerInnen statt auf die Straße in die Flasche guckten. Nach einem Bußgeld und einem Fahrverbot bekommen sie ihren Schein automatisch zurück. Nicht einmal ein Prozent (280 Personen) müssen sich beim Medizinischen Dienst auf ihre Fahrtauglichkeit untersuchen lassen. Wenn 0,8 Promille erlaubt sein werden, wieviel Bier- und Schnapsleichen werden dann erst hinterm Lenkrad rülpsen?
MDV-Ärztin Plöntzke bat deshalb diese Woche den Stadtrat für Inneres, Krüger, sich für einen 0,0-Promille-Versuch im vereinigten Autofahrer-Berlin einzusetzen. Plöntzke will auch, daß mit Alkohol aufgefallene Autofahrer ihren Führerschein nur zurückbekommen, wenn ihre Fahrtauglichkeit nach westlichem Vorbild positiv begutachtet wurde. Wie beim Spandauer TÜV sollten sogenannte Nachschulungskurse angeboten werden, um bei der Bewältigung möglicher Alkoholprobleme zu helfen. Anfang August hatten sich bereits Verkehrsexperten sowie der Westberliner Polizeipräsident Schertz und der Ostberliner Polizeidirektor Griebl für 0,0 Promille ausgesprochen.
Dirk Wildt
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen