: Meinungsfreiheit kistenweise
■ Speaker's Corner ungenutzt: BremerInnen haben sich nichts zu sagen
Angefangen hat es vor vier Jahren mit guten Absichten. Übriggeblieben sind inzwischen drei Kisten, stumme Mahnmale einer unentwickelten und unter Hanseaten vielleicht gar nicht entwickelbaren demokratischen Kulturtechnik. Jeden Sonntag stehen sie zwischen 15 und 17 Uhr rum, rot, selbstgezimmert und ein Raum-Dreieck der Narren- und Redefreiheit mitten im Weserwiesengras bildend: Bremens Hyde -Park-Import „Speaker's Corner“, direkt unter dem Bürgerhaus Weserterrassen.
Es sind offenbar schwierige Klettergerüste für die Meinungsfreiheit. Ihr Schwierigkeitsgrad: Es genügt nicht, einfach auf eine Kiste zu steigen, eine Übung, die viele BremerInnen durchaus beherrschen, wie eine Stunde Zugucken beweist - Kinder klettern
auf die Kisten, Hunde klettern auf die Kisten, Erwachsene setzen im Vorübergehen einen Fuß auf drauf. Um ihrer eigentlichen Bestimmung gerecht zu werden, ist mehr nötig: Eine Meinung müßte man haben, zu irgendetwas, und obendrein den Mut, sie öffentlich auszusprechen. Aber was an jedem Stammtisch, in jeder Werkskantine, bei jedem Fußballspiel mühelos gelingt - Von Angesicht zu Angesicht einer roten Kiste gegenüber verläßt die BremerInnen offenkundig aller Meinungsmut.
Einige sitzen in sicherer Entfernung, warten ab und hoffen, daß irgendeiner kommt und wenigstens den Anfang macht. Ja, sagt eine junge Frau, sie würde schon gern mal etwas über „Alternativen zu den Herrschaftsformen des Staates“ sagen, aber:
„Mir fehlt der Mumm.“
Drei junge Leute kommen vorbei. Einer steigt auf eine Kiste. Will er etwa was sagen? Nein. „Ich rede nur mit bestimmten Leuten, nicht zu Wildfremden.“ Hat er gar kein Anliegen an den Rest der Welt? Doch: „Der Müll muß verschwinden, aus den Parkanlagen, aus der Weser und überhaupt!“ Aber das kriegt er nur leise raus und ohne Kiste unter den Füßen.
Stefan Pleym und Christine Tigges können es inzwischen selbst nicht mehr mitansehen. Auch nach drei Jahren schleppen sie jeden Sonntag pünktlich die kleine Speaker's -Corner-Requisite herbei, rammen ein gelbes Fähnchen in den Boden und hängen das Körbchen mit der „Gebrauchsanweisung“ dran, in der z.B. steht: „Es ist ganz einfach:
Sie stellen sich jetzt sofort auf eine der roten Kisten...denken kurz an das, was Ihnen schon lange auf der Seele liegt und dann geht's los.“
Von wegen, ganz einfach. Stundenlang kann die Kiste stehen, ohne daß jemand die Sache einfach findet. Früher haben Pleym und Tigges selbst vorgemacht, wie's gehen könnte. Nach drei Jahren sind sie die Animateur-Rolle leid. Sobald die Kisten aufgebaut sind, schwingen sie sich wieder auf ihre Räder und überlassen sie der erhofften Agitationslust anderer: „Wir wollten nicht mehr das Gefühl haben, immer für's Gelingen oder Scheitern verantwortlich zu sein. Heute schaffen wir noch die Möglichkeit, nutzen müssen sie andere.“ Die anderen - am Sonntag gab's wieder keine. K.S
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