: Neuronen und falcgeshribne Wötr
■ Das Geheimnis neuraler Netzwerke - von der Gehirnforschung zur nächsten Computergeneration
Von Mathias Bröckers
Es ist nur eine knapp drei Pfund schwere, quarkartig schwabbelnde Masse, doch sie stellt die am elegantesten organisierte Materieansammlung des bekannten Universums dar: unser Gehirn. Die Verbindungen, die die etwa 100 Milliarden Nervenzellen (Neuronen) eingehen können, sind größer als die Zahl der Atome im All. Einige der „Leitungen“ in diesem hochkomplexen Netzwerk haben die Neurophysiologen ebenso aufgespürt wie das elektro-chemische Übertragungsmedium in Form bestimmter Botenstoffe (Neurotransmitter). Seitdem kann man ungefähr lokalisieren, wo bestimmte Formen der Informationsverarbeitung, wie die Sprache, abgewickelt werden. Die Frage aber, wie das Gehirn das tut (und darüberhinaus Gedichte, Bilder, Symphonien komponiert), ist nicht nur unbeantwortet. Bis heute weiß man kaum, wo man nach einer Antwort suchen soll. So unterschiedlich die Geistesphänomene, so vielfältig sind die Aktivitäten der Neuronen, Chemikalien und elektrischen Leitungen. Die einzelnen Teile des Biocomputers Hirn sind bekannt, doch das Ganze - der Prozeß des Denkens - ist mehr als die aktive Summe seiner Neuronen. Die Hoffnung, dieses „Mehr“ mit Alan Turings Universalmaschine, der Mutter unserer heutigen Computer, gefunden zu haben, erfüllte sich nicht. Nach 40 Jahren Denkforschung glaubt heute kaum noch jemand, daß der Geist als symbolverarbeitende Maschine mit Informationen auf dieselbe Weise umgeht, wie ein Digital-Rechner. Der Neuronen -Schaltkreis arbeitet hunderttausendmal langsamer als der eines gewöhnlichen PC. Und doch bringt schon das Gehirn eines 3jährigen Kindes Leistungen, die den schnellsten Super -Rechner wie ein Spielzeug erscheinen lassen.
Wie kommt es, daß eine Ansammlung von Neuronen so schlau ist? Der Autor William F. Allman ist dieser Frage bei einer Gruppe von Forschern nachgegangen, die sie nicht mehr - wie ihre Vorgänger seit Aristoteles - in zwei Teile getrennt untersuchen; die einen als Neurobiologen das Gehirn, die anderen als Philosophen, Linguisten und Computerologen den Geist. Sondern die als „Konnektionisten“ herausfinden wollen, wie es dazu kommt, daß wir trotz geringer Rechengeschwindigkeit zum Beispiel falcgeshribne Wötr sofort verstehen. Sie glauben, daß dies nicht nur mit der Software, unserem geistigen Textverarbeitungsprogramm, sondern auch mit der Hardware, der High-Tech der grauen Zellen, zu tun hat. Konnektionisten wie dem Physiker John Hopfield geht es dabei weniger darum, die Gehirne noch weiter auseinanderzunehmen, sondern eines zusammenzusetzen, das arbeitet wie das menschliche - als neurales Netzwerk.
Neuralnetze verfügen weder über einen Zentralprozessor noch über separate Datenspeicher. Die elektronischen Komponenten arbeiten mit sämtlichen Daten gleichzeitig. Die „Erinnerung“ ist über das ganze Netzwerk verteilt. Jedes einzelne Neuron ist mit zahlreichen anderen verknüpft und bei einer Entscheidung stimmt es sein Ergebnis mit ihnen ab. Die Konnektionisten vergleichen dieses Vorgehen mit einer öffentlichen Versammlung, bei der nach anfänglich chaotischer Debatte am Ende ein Mehrheitsbeschluß steht. Obwohl diese Entscheidungen nicht in methodisch -hierarchischer Abfolge und nach den strengen Gesetzen der Logik, sondern als „Kollektiverscheinungen eines komplexen Systems“ entstehen, sind sie durchweg sehr gut. Überall wo es darauf ankommt, schnell eine richtige, statt später eine 100prozentige Antwort zu erhalten, erweisen sich Neuralnetze dem Digitalrechner überlegen. Zudem verfügen sie über eine Eigenschaft, an der bisher alle Versuche, „künstliche Intelligenz“ auf digitalem Wege zu erreichen, scheiterten: Neuralnetzwerke sind kreativ, sie stellen Assoziationen her, generalisieren und können selbstätig lernen.
Einer der Forscher, die Allmann vorstellt, ist der Biophysiker Terry Sejnowski, dem gelungen ist, woran eine ganze Generation „digitaler“ Linguisten versagte - eine Maschine zum lauten Lesen zu bringen. NETalk besteht aus 300 dem menschlichen Neuron nachempfundenen Komponenten, die durch 18.300 Schaltungen miteinander verbunden sind, wobei die optimale Schaltung untereinander dem System selbst überlassen bleibt. Sejnowski legte den Input (Text) und den Output (Klang) fest und ließ das Netzwerk selbst entscheiden, wie es seine Neuronen miteinander verbindet: „Es vergleicht den Output mit dem angestrebten Ergebnis. Ist der Output nicht richtig, schreit es nicht einfach 'falsch‘, sondern bewegt sich in der Maschine rückwärts und sieht nach, welche Verbindungen das höchste Gewicht und folglich den größten Einfluß auf die Entscheidung des Netzwerks haben. Es verändert daraufhin die Gewichtung, damit ein besseres Resultat herauskommt.“ Nach einem Trainingstag konnte NETalk nicht nur den Übungstext, sondern auch völlig neue Wörter mit 95prozentiger Genauigkeit lesen. Deshalb verwetten Forscher wie Sejnowski ihre Karriere dafür, daß sich die Idee der Neuralnetzwerke durchsetzen wird. Bis vor kurzem stellten die Konnektionisten eher eine verschworene Gemeinschaft in der streng logisch-symbolischen Zunft der Geist- und Gehirnforschung dar. Mittlerweile fließen die Forschungsgelder reichlich, Militär und Industrie haben erkannt, daß die assoziative Ungenauigkeit der Neuralnetze äußerst realitätstüchtig ist. Nur die Verwalter der Wissenschaft sträuben sich noch, den Wahrheitsgehalt partieller Irrationalität zu akzeptieren. „Alle experimentellen Befunde deuten darauf hin, daß Menschen keine rationalen Wesen sind“, so der Konnektionist Rummelhart, „das ist eine schlichte Tatsache, die anzuerkennen sich die Rationalisten weigern.“ Die Neuralnetzwerker sehen unterdessen ihre Zukunft in durchaus leuchtenden Farben; dem Vorwurf, daß ihre Systeme manchmal an simplen Taschenrechner-Problemen scheitern, messen sie kein Gewicht bei: „Wieviele Konnektionisten sind nötig, um eine Glühbirne einzuschrauben? Wenn man das Ding richtig verdrahtet, braucht man keine Glühbirne.“
William F. Allman: Menschliches Denken - Künstliche Intelligenz, Verlag Droemer-Knaur 1990, 256 Seiten, 36, DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen