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Ein fast erfolgreiches BND-Gerücht

■ Wie der Verdacht, in der DDR lagere sowjetisches Giftgas, erfolgreich lanciert und gründlich widerlegt wurde / Eine Bundeswehrinspektion bei Leipzig fand keine Hinweise auf Lagerung von Chemiewaffen

Von Andreas Zumach

Berlin (taz) - Ein zwölfköpfiges Expertenteam der Bundeswehr hat bei einer Inspektion des sowjetischen Militärstandortes Hohenleipisch östlich von Leipzig keine Anzeichen für eine derzeitige oder frühere Lagerung von Chemiewaffen gefunden. Das berichtete die Delegation nach Abschluß der Untersuchung am Dienstag abend in Leipzig. Der Leiter des Inspektionsteams, Fregattenkapitän Jopp, sagte, er gehe davon aus, daß Spekulationen über die Lagerung chemischer Waffen der UdSSR in der DDR nun vom Tisch seien.

Eine Giftgasinspektion von drei Standorten der Nationalen Volksarmee hatte im Juli dasselbe Ergebnis erbracht. Wie ein sowjetischer Regierungsvertreter in Leipzig erklärte, ist Mokau bereit, „im Rahmen auf Gegenseitigkeit beruhender multilateraler oder bilateraler Vereinbarungen“ auch andere Militäreinrichtungen auf dem Boden der DDR und der übrigen Staaten der Warschauer Vertragsorganisation (WVO) überprüfen zu lassen. Der Desinformationspolitik von Bundesregierung und Bundesnachrichtendienst (BND) gegenüber Parlament und Medien, die die taz bereits im Oktober letzten Jahres aufdeckte, auf die sie zuletzt jedoch noch selber reinfiel, dürfte damit weitgehend der Boden entzogen worden sein.

Am 18. Oktober 1989 unterbreiteten der Abrüstungsbeauftrage der Bundesregierung, Botschafter Holik, und ein BND -Mitarbeiter dem - vom SPD-Abgeordneten Egon Bahr geleiteten Unterausschuß „Abrüstung und Rüstungskontrolle“ des Verteidigungsausschusses im Bundestag - im vertraulichen Teil der Sitzung „gesicherte Erkenntnisse westlicher Geheimdienste“. Danach hatte die UDSSR zum Zeitpunkt August 1989 26.700 Tonnen chemischer Kampfstoffe außerhalb ihrer Grenzen gelagert - in neun Depots in der DDR, drei in Polen, zwei in der CSSR und einer Lagerstätte in Ungarn. An 71 weiteren Orten in den vier Staaten befänden sich „möglicherweise“ jedoch nicht „bewiesenermaßen“ sowjetische Chemiewaffen. Dies stand im Gegensatz zu allen Erklärungen, die die Regierungen der UdSSR und der vier angeblichen Stationierungsländer bislang gemacht und unter anderem vor der Genfer UNO-Abrüstungskonferenz verbindlich zu Protokoll gegeben hatten. Auf die Frage einiger Abgeordneter, warum Bonn die „gesicherten Erkenntnisse“ nicht publik mache, erklärte Holik seinerzeit, die Bundesregierung sei bemüht, eine öffentliche Auseinandersetzung zu vermeiden und auf internen und bilateralen Wegen die vier Bündnisstaaten der UdSSR zu einer Lösung des Problems zu bewegen.

Die Unterrichtung der Abgeordneten erfolgte just zu dem Zeitpunkt, als nicht nur Abgeordnete von SPD und Grünen, sondern auch Politiker von FDP und CDU in Bonn wie in der Pfalz die „Geheimniskrämerei“ um die US-Giftgase in der Pfalz sowie um Zeitpunkt und Vorkehrungen für den Abzug dieser C-Waffen kritisierten. Unter Berufung auf die US -Regierung lehnte Bonn seinerzeit sämtliche Gesuche von Politikern auf einen Besuch des Giftgasdepots ab. Wenige Tage vor der Ausschußsitzung vom 18. Oktober mußte die Bundesregierung außerdem ihre Behauptung zurückziehen, sie habe der Bush-Administration schriftlich grünes Licht gegeben für die zwischen den Außenministern Baker und Schewardnadse Ende September 1989 vereinbarten Inspektionen vor Ort und den Datenaustausch, soweit diese die Vorräte in der Pfalz beträfen. Eine solche Genehmigung, erläuterte Holik den Abgeordneten, sei gar nicht notwendig gewesen, da in der Pfalz weniger als zwei Prozent des gesamten US -Giftgasarsenals lagerten, die Vereinbarung zwischen Washington und Moskau sich jedoch nur auf jeweils 98 Prozent der Arsenale der Großmächte und - in der ersten Phase - nur auf deren Territorium bezögen.

Mit den „gesicherten Erkenntnissen“ über sowjetische C -Waffen auf Bündnisterritorien sollte offenbar der Eindruck erweckt werden, Moskau habe etwas zu verbergen und sei an einer solchen Einschränkung von Glasnost interessiert. So konnte die Bundesregierung davon ablenken, daß Washington sich geweigert hatte, Daten über die tatsächliche Menge und Beschaffenheit der C-Waffen in der BRD auf den Tisch zu legen. Gleichzeitig wurde ein Besuch sowjetischer Inspektoren in der Pfalz bis zum vollständigen Abzug dieser Waffen verhindert, was auch im Interesse der Bundesregierung lag.

Daß die UdSSR jedoch schon damals in den Verhandlungen mit den USA den Datenaustausch über sämtliche Großmachtarsenale und Inspektionen auf allen Bündnisterritorien vorgeschlagen hatte, wie sowjetische und amerikanische Unterhändler bestätigten (siehe taz vom 7.März 1990), erfuhren die Bundestagsabgeordneten im Oktober 89 nicht.

Nach Veröffentlichung des Sachverhalts - wie er offensichtlich den Interessen der Bundesregierung entsprach

-in der taz vom 24. Oktober 89, dementierte die Moskauer Regierung die „gesicherten Erkenntnisse westlicher Geheimdienste“. Die Bundesregierung vermied jegliche öffentliche Stellungnahme. Intern ging man jedoch in Bonn mit viel Energie auf die Suche nach dem Informationsleck. Nachdem alle Mitglieder des Verteidigungsunterausschusses schriftlich versichert hatten, die vertraulichen Informationen Holiks und des BND-Mannes nicht an die taz weitergegeben zu haben, wurden die Ermittlungen abgeschlossen.

In späteren Sitzungen des Gremiums beharrte Holik darauf, daß sich die Informationen „eines Tages“ als richtig erweisen würden. Konkretes über die „bilateralen“ und „internen“ Bemühungen Bonns gegenüber Moskaus Bündnisstaaten wußte er nicht zu berichten. Recherchen der taz ergaben, daß die Regierungen in Ost-Berlin, Budapest, Prag und Warschau von Bonn zumindest offiziell in der Angelegenheit nicht kontaktiert wurden. C-Waffenexperten der Regierungen anderer Nato-Staaten wiesen gegenüber der taz die „gesicherten Erkenntnisse“ der Bunderegierung ausdrücklich als falsch zurück, die Geheimdienste ihrer Länder hätten keine entsprechenden Informationen. Es gebe höchstens Hinweise darauf, daß die UdSSR in der DDR und anderen WVO-Staaten C -Waffenlogistik unterhalte - das heißt leere Depotanlagen und möglicherweise unabgefüllte Munitionsbehälter und Granaten, die im Krisenfall mit herbeigeschafften Kampfstoffen aufgefüllt werden könnten.

Auch Egon Bahr und andere SPD-Abgeordnete spürten den Informationen nach. Von BND-Chef Wieck erhielt Bahr zunächst eine Bestätigung. Bei ihren Gesprächspartern in Moskau, Prag, Budapest, Ost-Berlin und Warschau handelten sich Bahr und andere Ausschußkollegen allerdings nur Dementis ein. Mit diesen Auskünften konfrontiert, zog sich der BND plötzlich auf US-Quellen zurück. Doch zumindest bei den Sicherheitspolitikern der Bonner Oppositionsparteien herrscht inzwischen die Überzeugung vor, daß es sich bei den Informationen um „völlig isolierte Kenntnisse“ des BND handelt.

Nachdem sich die taz am 7. März 1990 erneut mit dem Thema befaßt hatte, beschwerte sich Botschafter Holik eine Woche später auf der Sitzung des Unterausschusses über diese Veröffentlichung. Holik mokierte sich darüber, daß ihn sowjetische Regierungsvertreter auf einer internationalen C -Waffenkonferenz im australischen Canberra auf den ersten taz-Bericht angesprochen und gefragt hätten, auf welcher Grundlage er die Behauptungen über C-Waffen außerhalb der UdSSR gemacht habe. Zu diesem Zeitpunkt war der Bundesregierung auch wegen der seit Oktober letzten Jahres gründlich veränderten politischen Ost-West-Großwetterlage noch weniger als im Herbst an einer Auseinandersetzung mit Moskau gelegen. Dennoch blieben die „gesicherten Erkenntnisse“ auf dem Tisch. Als Munition in der innenpolitischen Auseinandersetzung um die US-Giftgase in der Pfalz sowie deren Abzug und Vernichtung im Pazifik konnten sie noch von Nutzen sein. Als am 7. Juli ausgerechnet die taz mit der Behauptung aufmachte „Sowjetisches Giftgas lagert in der DDR“, wurden in Bonn ausgesuchte Medien mit denselben, seit dem 24. Oktober 1989 öffentlich bekannten „gesicherten Erkenntnissen“ gefüttert. Unter Berufung auf anonyme „Bonner Sicherheitskreise“ fanden sie nun auch in anderen Zeitungen eifrige Verbreitung. Ausgerechnet im Mainzer Innenministerium, das mit dem US -Giftgasabzug befaßt ist, hatte der in dieser Sache recherchierende taz-Korrespondent erfahren, die UdSSR habe in der DDR „weitaus mehr C-Waffen stationiert als die USA in der Bundesrepublik“. Neben anonym bleibenden „Friedensforschern“ wurden als Kronzeugen namentlich ungenannte „reuige Ex-SEDler“ zitiert, die gegenüber dem SPD -Bundestagsabgeordneten Karsten Voigt eingestanden hätten, die SPD Mitte der achtziger Jahre bei den SED-SPD-Gesprächen über eine chemiewaffenfreie Zone in Europa in der Frage sowjetischer C-Waffen auf DDR-Territorium „belogen“ zu haben. Nachrecherchen ergaben indes: Bei den angeblich „reuigen EX-SED-lern“ handelt es sich um eine Person, mit der der Korrespondent nie selbst gesprochen hatte: den Professor für chemische Toxikologie an der Leipziger Akademie, Lohs. Lohs war über lange Jahre zwar einer der führenden C-Waffenexperten der DDR und hatte Beraterfunktion etwa bei der DDR-Delegation in Genf. In der SED bekleidete er allerdings keine Funktion. Er war einfaches Mitglied und trat nach dem November 89 aus der Partei aus - wie viele Millionen andere DDRler auch. Von der taz jetzt zum Sachverhalt direkt befragt, wies Lohs entschieden zurück, Informationen über sojwetische Giftgasvorräte in der DDR verbreitet zu haben - vielmehr glaube er den „offiziellen Erklärungen Gorbatschows“. Es sei politisch höchst „unwahrscheinlich“, wenn auch rein „theoretisch“ „nicht auszuschließen, daß die politische Führung in Moskau vom Militär nicht über alle Aktivitäten auf dem Boden der DDR informiert worden“ sei. Lohs räumte jetzt ein, zum Zeitpunkt der SED-SPD-Gespräche in den 80er Jahren nicht einmal über die geringen Mengen der unter NVA-Kontrolle existierenden chemischen Kampfstoffe in der DDR informiert gewesen zu sein.

NVA-Generalmajor Nagler hatte anläßlich der Bundeswehrinspektionen Mitte Juli erklärt, daß die NVA zur Ausbildung in der Kampfstoffabwehr über 705,6 Gramm Nervengift, 206,1 Kilogramm hautschädigende Mittel sowie 38,9 Gramm psychotoxische Chemikalien verfügt. Auch Karsten Voigt erklärte auf Nachfrage gegenüber der taz, von Gesprächspartnern aus der DDR keine Informationen erhalten zu haben, daß die tatsächlichen Mengen der chemischen Kampfstoffe in der DDR über diese Angaben hinausgingen. Falsch ist auch die in diesem Zusammenhang aufgestellte Behauptung, entsprechende Informationen würden vom DDR -Ministerium für Abrüstung und Verteidigung „nicht mehr dementiert“. Das Ministerium dementiert bis heute. Auch daß Moskau Washington um Hilfe bei Abzug und Vernichtung von in der DDR lagernden C-Waffen gebeten hätte, wie in der Berichterstattung nahegelegt wurde, trifft nicht zu. Richtig ist, daß die UDSSR in den USA angefragt hat, ob die in der UDSSR lagernden C-Waffen auf dieselbe Weise wie die der USA auf dem Pazifik-Atoll Johnston Island vernichtet werden könnten.

Die „Berichte und Spekulationen in bundesdeutschen Medien im Juli“ hätten die UdSSR zu der Inspektionseinladung bewogen, erklärte der Sprecher des Bundeswehrteams bei der Ankunft in Leipzig. Aber noch immer bekennt sich die Bundesregierung nicht offiziell dazu, den Giftgasverdacht in die Welt gesetzt zu haben. Daß sich angesichts solchen Versteckspiels Falschinformationen besonders gut halten, bewies am Dienstag die Nachrichtenagentur 'dpa‘. Obwohl die US-Geheimdienste CIA und DIA und danach auch die Bush -Administration ihre Einschätzung längst öffentlich auf 50.000 bis 70.000 Tonnen korrigiert haben, verbreitet die Nachrichtenagentur unter Berufung auf „westliche Geheimdienste“ die Gesamtmenge von „200.000 bis 700.000 Tonnen sowjetischer Chemiekampfstoffe„; davon befänden sich „rund 30.000 Tonnen auf DDR-Gebiet“.

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