: Tschernobyl: Bricht der Sarkophag?
■ Experten warnen vor neuer Katastrophe / Der Beton wird durch Strahlenbeschuß und hohe Temperaturen immer spröder / Sowjetische Wissenschaftler arbeiten an Krisenplänen
Berlin (ap) - Die nicht gerade als atomkritisch bekannte „Internationale Atomenergiebehörde“ (IAEO) befürchtet eine neue Katastrophe in Tschernobyl. Der Sprecher der Wiener Behörde, David Kyd, erklärte in einem Interview der 'Berliner Morgenpost‘, es könne zu einem neuen Unfall kommen, weil der im April 1986 nach dem Reaktorbrand in aller Eile gebaute Betonmantel um die AKW-Ruine den Belastungen nicht standhalte. Sowjetische Atomwissenschaftler arbeiteten bereits an Krisenplänen.
Wegen des ständigen Beschusses des Betonmantels mit Spaltprodukten bestehe „auf lange Sicht“ in Tschernobyl die Gefahr, daß erneut radioaktives Material aus dem Reaktorinnern in großem Umfang in die Umwelt gelangen könne, sagte Kyd. Der Beton-„Sarkophag“ um das havarierte Kraftwerk werde durch den Strahlenbeschuß und die hohen Temperaturen immer spröder. Die Temperatur im Reaktorinnern wird immer noch auf mehr als 200 Grad Celsius geschätzt. Die größte Gefahr gehe derzeit vom Betondach des Reaktors aus. Ein schleichender Austritt von Spaltprodukten durch die porösen Betonmauern gilt nicht mehr als ausgeschlossen.
Sowjetische Atomwissenschaftler haben zwei Pläne entwickelt, um den Unglücksreaktor abzudichten, sagte der IAEO-Sprecher. Entweder solle das Dach durch Einfüllen von flüssigem Kunststoff, der sich verfestigt, abgestützt werden, oder es müsse ein neuer Betonmantel um den Block gelegt werden. In den sowjetischen Atomzentren werde nach Angaben Kyds bereits an einem Modell für einen „Sarkophag II“ gearbeitet.
Eine 100köpfige Expertengruppe der IAEO, die die gesundheitlichen Folgen der Reaktorkatastrophe in der Ukraine begutachte, habe in den vergangenen Tagen die Erlaubnis erhalten, den Unglücksreaktor zu überfliegen. Dabei seien äußerlich keine Schäden zu sehen gewesen. Bei den Untersuchungen sei die IAEO-Kommission jedoch zu „besorgniserregenden“ Ergebnissen gekommen. So sei die radioaktive Strahlung des durchgebrannten Reaktors in einem Umkreis von 100 bis 300 Kilometern viel stärker nachzuweisen gewesen als erwartet. Sie sei nahezu ebenso hoch wie am Reaktor selbst.
Am 27. August beginnen in Wien einwöchige Beratungen über den Sicherheitsstandard der Atomkraftwerke der „ersten Generation“ in Osteuropa. Wie die IAEO am Freitag mitteilte, werden Vertreter der betroffenen Länder Bulgarien, CSFR, DDR und UdSSR sowie Fachleute aus Belgien, Frankreich, der Bundesrepublik, Japan, Polen, Spanien, der Schweiz sowie der EG erwartet. Auf Einladung der Prager Regierung soll vom 1. bis 12. Oktober ein Expertenteam der IAEO das von Österreich als besonders gefährlich angesehene grenznahe AKW Bohunice in der Slowakei untersuchen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen