piwik no script img

Wenn Ameisenhaufen in Computern hausen

■ Die Artificial-Life-Forschung versucht, den Wundern der Natur durch digitale Lebewesen auf die Spur zu kommen

„Einige Wissenschaftler glauben, daß Dinge in ihren Computern lebendig sind. Das wirklich Unheimliche ist, daß sie recht haben könnten.“ So überschrieb das US-Magazin 'Time‘ Anfang August einen Bericht über die Erforschung künstlichen Lebens (Artifical Life): „Sie werden geboren. Sie leben ihr kurzes Leben. Die Angepaßtesten überleben lange genug, um für Nachwuchs zu sorgen. Ihre Nachkommen entwickeln sich mit der Zeit und passen sich an veränderte Lebensbedingungen an. Oder versäumen die Anpassung und sterben aus. Sie verhalten sich, im kleinen, wie Lebenwesen

-außer daß sie statt Fleisch und Blut ein Programm haben und den Speicher eines Computers bewohnen. Kann etwas, das in einem Computer 'lebt‘, wirklich lebendig sein? Das ist die bizarre Frage, die der Artificial-Life-Forschung auf dem Herzen liegt, einer schnell wachsenden wissenschaftlichen Gemeinde, die die Natur dadurch zu erhellen sucht, daß sie lebensähnliches Verhalten in nichtlebenden Systemen erschafft.

In Laboren rund um die Welt tippen Wissenschaftler Computer -Tasten, um elektronische Versionen biologischer Lebewesen zu erzeugen - Proteine, Mikroben, Ameisen -, die schlagende Ähnlichkeit mit ihren lebendigen Vorbildern aufweisen. Dabei stellen die Forscher Fragen, die an eines der hartnäckigsten Geheimnisse der Biologie rühren: Wie erschafft die Natur Ordnung aus Chaos? Wie enstand Leben aus Nicht-Leben? Was bedeutet es, lebendig zu sein?“

Christopher Langton, Biologe und Chaosforscher am Institut für Nichtlineare Systeme in Los Alamos, hat den mittlerweile „A-Life“ oder „A-L“ abgekürzten Begriff Mitte der 80er Jahre geprägt. Er definiert „Artifical Life“ als „den Versuch, die logischen Formen des Lebens in einer anderen Materialform zu betrachten“. Seine These ist, daß Leben einen Prozeß darstellt - eine Beziehung, oder Logik, oder Komplexität -, dessen Manifestation nicht an ein spezifisches Material gebunden ist: „Das Wichtigste, was wir bei künstlichem Leben bedenken müssen, ist, daß der 'künstliche‘ Teil nicht das Leben ist, sondern das Material. Wirkliche Dinge geschehen, wir beobachten reale Phänomene. Es ist wirkliches Leben in einem künstlichen Medium.“ Auf dem Kongreß „Chaos & Order“ in Graz 1989 nannte Christopher Langton vier Gründe für die Erforschung künstlichen Lebens:

-„A-Life“ gibt uns ein Bild der Natur - und anderer Dinge

-als Ganzes.

-Wir müssen es studieren, weil es uns unvermeidlich begleitet, wie zum Beispiel an den Computer-Viren zu sehen ist.

-A-Life ist eine bessere Art, komplexe Software herzustellen - wenn du sie nicht bauen kannst, laß sie wachsen.

-A-Life ist ein Mittel des Studiums biologischen Lebens, welches sich als historischer Fall ohne Vergleichsmöglichkeit dem Verstehen entzieht und (praktisch und moralisch) ausschließt, auf kalte wissenschfliche Art einige Parameter zu erheben.

Als ideales Modell für künstliche Lebenswelten kamen viele Forscher unabhängig voneinander auf den Ameisenhaufen - das Paradebeispiel für extreme Komplexität nach einfachen Regeln. Eine der auf der zweiten Artifical-Life-Konferenz am Zentrum der A-L-Forschung in Santa Fe im Februar prämierten Ameisenwelten stammt von David Jefferson. Seine Kreaturen bewegen sich nach einfachen Algorithmen, sie „ernähren“ sich von Rechenkapazität, ihre einzige Lebensaufgabe ist, den Weg durch ein kompliziertes Labyrinth zu finden. Da das „Futter“, die Rechenzeit, begrenzt ist, können sie weder lange nachdenken noch zuviele falsche Bewegungen machen. Erfolgreich ist, wer einige einfachen Regeln entdeckt, die ohne viel Irrtum und Nachdenken durch das Labyrinth führen. Die besten Exemplare der ersten Generation schafften zwei Drittel des Labyrinths, bevor sie ihre Denkkraft aushauchten. Nach 100 Generationen bewegten sich sämtliche Ameisen mit perfekter Sicherheit durch den Irrgarten - die geniale Daumenregel dafür hatten nicht Menschen, sondern sie selbst gefunden. Überraschungen erlebte Jefferson, als er diese hochentwickelten „Ameisen“ in ein neues Labyrinth setzte. Dort erwiesen sich junge, untrainierte Artgenossen überlegen. Die alten waren nicht fähig, hinzuzulernen. Sie erlagen ihrer Überspezialisierung. „Ich lernte daraus“, so Jefferson, „daß Evolution grundsätzlich Parallel-Lernen ist.“ Wer nicht lernt, wer sich nicht mit Unbekanntem beschäftigt, ist tot.

„Leben“, heißt es in Christopher Langtons Monographie zum Thema (Artifical Life, 1989), „wird auf der Grenze zum Chaos geführt.“ Um den vitalen Grenzverkehr zwischen Chaos und Ordnung besser zu verstehen, bieten die A-L-Welten vor allem eine Möglichkeit: Sie komprimieren die Zeit, evolutionäre Maßstäbe werden auf menschlich erfaßbare Zeiträume reduziert.

Die von David Ackley geschaffenen menschlich aussehenden Kreaturen auf der Suche nach den üblichen Dingen - Nahrung, Energie, richtige Antworten - pflanzen sich schneller als Karnickel fort: über Nacht 300 Generationen. Ackley entdeckte schnell einige Methusalems, die alle Regeln des Systems gecheckt hatten, sie und ihre Nachkommen wurden „unsterblich“. Etwas Erstaunliches geschah, als er den Code dieser Superorganismen noch etwas verbesserte (die erste und einzig verantwortbare, weil virtuelle Gen-Manipulation): Als Individuen kletterten diese Kreaturen höher auf der Fitneß -Skala als jede anderen zuvor, die Zahl ihrer Populationen aber nahm ab. Obwohl sie nie ausstarben, rangierten sie bald auf dem Level einer „bedrohten Art“.

Der Autor Kevin Kelly (Whole Earth Review, Nr.67) faßt Ackleys Arbeit so zusammen: „Hier, in einem Labor, in der selbstgebrauten Welt eines Mitternachts-Hackers, steckt der erste wiederholbare Test für eine uralte ökologische Weisheit: Daß das, was das Beste für ein Individuum ist, nicht notwendig auch das Beste für die Spezies bedeutet.“

Mathias Bröckers

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen