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Viel mehr NS-Opfer vergessen, als gedacht

■ „Bremer Härteregelung für vergessene Opfer des NS-Regimes“ / Erfahrungen nach eineinhalb Jahren

Mit hundert Anträgen „vergessener NS-Opfer“ hatte Wiedergutmachungs-Abteilungsleiter Hermann Pelke gerechnet: „Das war eine gegriffene Zahl. Aber wir haben gedacht, mehr käme auf Bremen nicht zu“. Doch eineinhalb Jahre später ist offenbar, daß die Schätzung „hundert“ selbst ein Beleg dafür ist, wie groß das Vergessen der Opfer ist: Nicht hundert Menschen insgesamt, sondern 232 Menschen schon binnen eineinhalb Jahren haben beantragt, bei der „Bremer Härteregelung für vergessene Opfer des NS-Regimes“ berücksichtigt zu werden. Und dies, obwohl der Kreis der Anspruchsberechtigten vom Senat bewußt klein gehalten worden war: Denn nur wer von den NS-Opfern noch in Bremen lebt, kann anerkannt werden. Alle ehemaligen ZwangsarbeiterInnen etwa, die die Stätte ihrer Marter verlassen haben Richtung Polen, Sowjetunion oder Israel - bleiben von vornherein außen vor.

Ein „vergessenes Opfer“ in Bremen - wer ist das? Das ist zum Beispiel einer, der aus Hitlers Wehrmacht desertiert ist, weil er „nicht morden und ganz einfach leben“ wollte. Und der als „Deserteur“ nach dem Krieg in

Bonn keinen Anspruch auf „Wiedergutmachung“ für seine Qualen in der Todeszelle eingeräumt bekam (nach dem „Bundesentschädigungsgesetz“). Genauso wenig wie eine „Kommunistin“, oder eine von den Nazis als „asozial“ eingestufte Bürgerin. „Vergessene Opfer“ sind auch die, die in einem Konzentrationslager zur Welt gekommen sind, bei Kriegsende noch Kinder waren und bis heute an einem Kreuz tragen, das PsychiaterInnen „Trauma“ nennen. Und „vergessene Opfer“ sind gerade in Bremen alle (Ex-)BewohnerInnen der „Wohnungsfürsorgeanstalt“. 1936 war diese Wohnkolonie für „asoziale“ Familien auf einem abgelegenen Gelände errichtet worden. 84 Einfamlienhäuser, um zwei rechteckige Plätze herumgebaut, hatten eine völlig geschlossene Anlage unter ständiger Bewachung gebildet. Bis zu 500 Frauen, Kinder und Männer hatten Platz in dieser vergessenen, „KZ-ähnlichen Wohnkolonie“ (zum Nachlesen: Wolfgang Voigt: „Wohnhaft“). (Ex-)BewohnerInnen dieses „Wohnknastes“ bilden zusammen mit Bremer Sinti die größten Gruppen unter den 232 „vergessenen“ Bremer AntragstellerInnen.

Den Bremer Härtefonds gibt es seit dem 1.1.1989. Ein Beirat mit elf Mitgliedern trifft die Entscheidungen. Diesem Beirat gehören außer Partei-und Kirchen-VertreterInnen Mitglieder der Verfolgtengruppen an: vertreten sind die Israelitische Gemeinde, die

Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, der Landesverband der Sinti und Roma und das Rat & Tat-Zentrum für Homosexuelle. Die AntragstellerInnen selbst werden nur in Ausnahmefällen vor dem Beirat gehört; mit ihnen sprechen in vertraulicher Atmo

sphäre Mitarbeiterinnen des Landesamtes für Wiedergutmachung (beim Senator für Arbeit). Die Mitarbeiterinnen ihrerseits stellen die Schicksale dem Beirat vor. Einer der ersten Antragsteller, der Wehrmachtsdeserteur Ludwig Baumann, hatte dem Beirat deswegen jedoch einen Beschwerdebrief geschrieben. Darin führte er an: „Die Sachbearbeiterin fragte mich nach meinen evtl. gesundheitlichen Schäden aus der damaligen Zeit und fügte hinzu, daß ich ja heute ganz gesund aussehe. Wie kann sie auch wissen, was es bedeutet vier Monate in einer Todeszelle zu liegen. Wie kann sie auch wissen, wie Jahre im KZ und im Strafbattaillion eine Menschen zerstören können und welche traumatischen Zustände mich heute noch verfolgen.“ Ludwig Baumann, der Beschwerdeführer von damals, hat der Mitarbeiterin verziehen, sie habe sich inzwischen in die Geschichte der Nazizeit eingearbeitet: „Sie war zu mir dann sehr kooperativ und freundlich.“ Hermann Pelke, als Vorgesetzter zuständig für die Wiedergutmachung: „Diese Arbeit ist für die Mitarbeiterinnen nicht ganz einfach. Und oft erschütternd. Ich kann Ihnen sagen, daß

mit dem Vortrag vor dem Beirat auch schon geweint wurde.“

Der Fonds muß aufgrund der unerwartet hohen Zahl „vergessener Opfer“ finanziell aufgestockt werden. Für 1990 waren für den Fonds 280.000 Mark angesetzt gewesen. Danach sollte die Summe eigentlich runtergefahren werden, da das Amt davon ausging, daß dann keine zusätzlichen Antragsteller mehr anklopfen würden und sich mit den Jahren und den Todesfällen der Fonds reduzieren würde. Da sich jedoch viel mehr „vergessene Opfer“ meldeten als geschätzt und darunter auch viele mittleren Alters waren, etwa diejenigen, die als Kind im Konzentrationslager leben mußten, mußte der Fonds wider Erwarten aufgestockt werden: für 1991 sind 300.000 Mark eingeplant, für 1993 400.00 Mark. Die meisten der als „vergessenes Opfer“ Anerkannten bekommen aus dem Fonds eine „einmalige Beihilfe“ - von bis zu 5.000 Mark. Nur ein Teil von ihnen erhält eine kleine Rente - von monatlich bis zu 500 Mark. Das aber nur, solange die Berechtigten in Bremen wohnen. Und „ohne Rechtsanspruch“, wie ausdrücklich auf den Bescheiden vermerkt ist.

Barbara Debus

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