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Jetzt auch noch Lehrlingsberg in Ost-Berlin

■ DDR-Lehrlingsausbildung im Umbruch / Wieviele übernommen werden können, weiß auch heute noch niemand / Allein in Ost-Berlin drängen dieses Jahr 12.000 SchulabgängerInnen auf den Ausbildungsmarkt / Eigeninitiative sind die Lehrlinge nach eigenen Angaben nicht gewohnt

Ost-Berlin. 12.000 Schülerinnen und Schüler verlassen in diesem Jahr die diversen Ostberliner Schulen, fast ebensoviele haben sich auf die Suche nach einer Lehrstelle gemacht. Doch im Gegensatz zu den Vorjahren werden dieses Mal nicht nur einige dabei leer ausgehen. 30.000 Schulabgänger - so neueste Erhebungen - haben in der DDR bisher noch keinen Ausbildungsplatz finden können; wieviel es derzeit im Ostteil Berlins sind, ist bisher noch nicht bekannt. Da sind diejenigen, die bereits vor einem Jahr in die Ausbildung gegangen sind, scheinbar besser dran.

Hilferufe an Minister ohne Ergebnis

Doch auch bei ihnen grassiert die Unsicherheit. So hat sich beispielsweise der VEB Deutrans, ehemals größte Speditionsfirma der DDR, sozusagen in seine Bestandteile zerlegt. Das Unternehmen wurde „entflochten“, die bisherige Hauptverwaltung fungiert nur noch als Konkursabwickler des ehemaligen Großunternehmens. Sie aber war bis dato für die Berufsausbildung zuständig. Bereits im Mai wandten sich deshalb Angehörige der Berufsschule und Lehrlinge an den Bildungsminister und den Minister für Verkehr der DDR. In einem Brief schilderten sie die Lage des sich auflösenden Kombinates und äußerten die Befürchtung, daß der Bereich Lehrausbildung - als „unproduktiver“ Teil des ehemaligen Großunternehmens - unter die Räder kommen könne. Auf eine Antwort der angeschriebenen Regierungsmitglieder warten sie noch heute. Statt dessen lud der Direktor der sich auflösenden Großspedition die besorgten Lehrer und Lehrlinge zu sich und versprach ihnen, daß die Ausbildung auf jeden Fall weitergeführt werde - schließlich sei die Deutrans -Ausbildungsstätte die einzige, die Verkehrskaufleute ausbilde.

Lehrer entlassen,

Lehrlinge hängen in der Luft

Doch in Wahrheit wurden Angestellte wie Lehrlinge regelrecht verschaukelt: die Ausbildungsstätte wurde dichtgemacht. Die Lehrkräfte erhielten den blauen Brief in die Hand gedrückt Entlassung zum 30. September. Die Auszubildenden konnten bis auf wenige Ausnahmen nur unter größter Kraftanstrengung der Beteiligten in anderen Firmen untergebracht werden. Zumeist waren das Unternehmen, die die Teilbetriebe von Deutrans übernommen hatten. Diese jedoch verfügen über kein qualifiziertes Ausbildungspersonal.

Viele Betriebe stehen derzeit vor dem Bankrott, wissen nicht einmal, wie sie die Löhne für das nächste Quartal lockermachen sollen. Selbst wenn die Produkte, die die jeweilige Firma herstellt, theoretisch absetzbar wären keiner zahlt mehr was, der zwischenbetriebliche Zahlungsverkehr ist zum Erliegen gekommen. Aber Ausbildungsplätze kosten Geld. „So schlecht sind unsere Produkte ja nicht“, sagt denn auch der Leiter des Büros des Geschäftsführers der Elektroapparatewerke (EAW) Treptow, Stern, „aber für einen Betrieb wie den unseren, der praktisch nur Betriebsmittel herstellt, ist die gegenwärtige Situation eben sehr ungünstig“.

Theoretische Ausbildung geht an Kommunen

Auch das EAW hatte ähnlich wie zahlreiche andere DDR -Betriebe eigene Ausbildungsstätten, in denen sowohl der theoretische als auch der berufspraktische Unterricht erteilt wurde. „Die theoretische Ausbildung“, so Stern weiter, „sind wir jetzt los.“ Denn: „Wir haben unser Ausbildungsobjekt kostenlos an die Kommune abgegeben, dafür braucht der Betrieb vorerst nichts für die Ausbildung zu bezahlen. Probleme gibt es aber mit dem Ausbildungsniveau. Deshalb haben wir generell die Lehrzeit um ein Jahr verlängert.“ Dies werde jetzt generell angestrebt, um die Einstiegschancen der ostdeutschen Berufsanfänger zu vergrößern.

Eigene Interessen

vertretung nicht gelernt

Letzte Woche bekam das Ausbildungsobjekt des EAW in der Mörikestraße Besuch. Regina Görner, Mitglied des Geschäftsführenden Bundesvorstandes des DGB, wollte sich vor Ort über die Situation der DDR-Auszubildenden informieren. Doch die 16- bis 17jährigen waren nur schwer zu einem Gespräch zu bewegen: „Wir haben es eben nicht gelernt, unsere Meinung zu sagen, unsere innere Verklemmtheit können wir halt nicht von heut auf morgen ablegen.“ Doch mit der Zeit legten sie ihre Befangenheit ein wenig ab. „Wenn ich höre, wie die Politiker sich darum streiten, ob Berlin nun Hauptstadt wird oder nicht, dann denk‘ ich mir manchmal: haben die nichts besseres zu tun?“, so die Meinung der meisten anwesenden Auszubildenden. Doch wie sollen sie denn Einfluß nehmen auf das, was auf sie zukommen wird? Gewerkschaft - das war für alle bisher so eine Art Pflichtveranstaltung. Torsten Hank (17): „Im FDGB war man eben drin. Da zahlte man seinen Beitrag, und damit hatte es sich.“ Doch jetzt, wo vielen Betrieben das Aus droht, hat sich die Situation verändert. Viele ehemalige Volkseigenen Betriebe versuchen, durch das Abwerfen von „Ballast“ sich über Wasser zu halten. Torsten Hank (17): „Es gibt da bei uns so ein Betriebsferienheim, das soll nun verkauft werden. Früher hatten wir zum Beispiel die Möglichkeit, mal 'ne Klassenfahrt dorthin zu machen. Das wird es nun nicht mehr geben.“

Das EAW hat bisher noch keinen Lehrling entlassen. Doch die Auszubildende beklagen sich, daß sie im praktischen Teil der Lehre meist nur Handlangerarbeiten verrichten müssen: „Das hat doch nichts mit Lernen zu tun.“ Bei den Lehrlingen, herrscht große Unsicherheit über die Zeit nach der Ausbildung: „Wer weiß, ob sich der Betrieb überhaupt halten wird. Man muß da mal durchgehen - das reinste Museum. Das ist hier in der Lehrausbildung nicht anders. Schon wegen eines simplen Seitenschneiders rennt man sich die Hacken wund.“

Selbst etwas gegen die Mißstände zu unternehmen - dazu konnte sich bisher niemand aufraffen. Zwar gäbe es einen Lehrlingssprecherrat, doch gingen Beschwerden selten über ihn hinaus. Jahrelang, so eine Auszubildende, wurde einem eben alles gesagt, was zu tun und zu lassen sei - da herauszukommen, sei eben schwer. Und außerdem - so die 17jährige: „Was sollen wir denn machen? Ändern werden wir doch sowieso nichts.“

Auch Stern ist nicht übermäßig optimistisch. „Auch wenn wir überleben sollten - so heißt das noch lange nicht, daß wir alle Lehrlinge auch in den Betrieb übernehmen können. Und selbst wenn dann noch die alte Regelung des Arbeitsgesetzbuches gelten sollte, daß wir verpflichtet sind, alle bei uns einzustellen - dann wird man vielleicht auch nicht anders können, als sie nach dem ersten Arbeitstag zu entlassen.“

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