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„Jetzt haben die Kinder einfach Heimweh“

■ 245 belorussische Kinder feierten gestern beim Ferienspaß im Palast der Republik ihr Abschlußfest / Vier Wochen konnten sie sich im Umland Berlins von ihrer verstrahlten Heimat erholen / In der nächsten Woche kehren sie zurück

Mitte. Familienstadtrat Hempel tut es tatsächlich. Er singt „Alle meine Entchen“, und gar nicht mal schlecht. Die Kinder, die sich vor der Bühne drängeln, haben ihren Spaß daran. „Superferien(s)paß-Party“, gestern nachmittag im Palast der Republik. Eingeladen waren Kinder aus beiden Teilen der Stadt von der Senatsverwaltung für Frauen, Jugend und Familie, der Magistratsverwaltung für Jugend, Familie und Sport und dem Palast der Republik.

Das Foyer in „Erichs Lampenladen“, einstiger Spitzname des mit unzähligen Glaskugeln beleuchteten Gebäudes, hat diesmal alles, was ein Kinderfest braucht: Luftballons, Eisstände, Musik. Vor einer Wurfscheibe steht eine Schlange, ein Stück weiter sind die Glaskästen mit Fröschen, Meerschweinchen und anderen Tieren dicht belagert. Die Mitarbeiter des FEZ-Parks (Freizeit- und Erholungszentrum) haben sie aus der Wuhlheide mitgebracht. Daneben sägen und schleifen Kinder und Erwachsene Holzstücken zu Hampelmännern. Viele Kinder aus West-Berlin sind der Einladung gefolgt. Matsuri Matsui, neun Jahre alt, ist mit ihren Eltern vor sieben Jahren aus Japan nach West-Berlin gekommen und hat per Einladung von diesem Fest erfahren. Cola trinkend sitzt sie mit ihrer Freundin an einem der Tische. Roxana Tegel, mit buntbemaltem Gesicht, schiebt gerade den Eislöffel in den Mund. Sie findet es besonders schön, daß sie heute alles umsonst bekommt. Oliver Storch hingegen bastelt lieber. Zwar sei er in diesem Sommer auch schon bei Kinderfesten im Westen gewesen, „aber hier sind mehr Kinder“.

Unter all diesen Kindern fallen die 245 aus Belorußland, dem verstrahlten Gebiet nördlich von Tschernobyl, natürlich nicht auf. Dabei ist dies ihr Abschlußfest. In der nächsten Woche kehren sie wieder zu ihren Eltern nach Minsk, Brest, Pinsk und in andere Städte zurück. Es ist der letzte von drei Feriendurchgängen in diesem Sommer, den das gemeinsame Wirken des belorussischen Komitees „Kinder aus Tschernobyl“, des Neuen Forums und der Westberliner Selbsthilfegruppe „Mütter und Väter gegen atomare Bedrohung“ insgesamt rund 1.000 Kindern aus Belorußland möglich machte. Initiiert hatten das die sowjetische Dozentin Irina Gruschewaja und das Ehepaar Pflugbeil vom Neuen Forum.

Eine der Betreuerinnen ist Nastja Branowitz. Die 29jährige Französischlehrerin aus Minsk erzählt mit leuchtenden Augen, wie schön die vergangenen vier Wochen für die Kinder waren, mit Exkursionen, Eisessen, Spielen im Wald und am See. „Zu Hause können die Kinder nicht im Garten spielen. Sie werden mit dem Bus in die Schule gefahren und sitzen dort den ganzen Tag. Und sie bekommen schlechtes Essen.“ Hier hätten sie sich gut erholt, das werde sicher ein paar Monate vorhalten, aber dann...

Wenn sie selbst wieder nach Minsk zurückkehrt, werde sie als Lehrerin weiterarbeiten, und nebenbei im Komitee. „Wir haben große Probleme, keine Räume, keine Telefone, keine Kopiergeräte. Und wir müssen alles selbst bezahlen.“ Sie selbst hat einen sechsjährigen Sohn, der seit der Katastrophe immer häufiger krank wird, „beim letzten Mal mit Schnupfen und Husten zwei Monate lang“. Sie möchte gern noch ein zweites Kind, aber wenn sie die Ärztin fragt, ob es denn auch gesund geboren wird, erhält sie nur die Antwort: „Ich weiß es nicht.“

Sie fragt drei Mädchen, die gerade aufgeregt von ihren Erlebnissen beim Fest erzählen, was ihnen bei ihrem Urlaub am besten gefallen hat. Die Antwort - West-Berlin, die Diskotheken mit den deutschen Kindern und vor allem „Baden im See“. Michaela Beier lebt im Nachbardorf von Neugersdorf, wo ein Teil der Kinder untergebracht ist. Als die Leute mitbekommen haben, daß dort Kinder aus dem Katastrophengebiet sind, hätten sie Kleider gespendet, sie selbst sei oft dorthin gegangen und auch mit den Kindern nach Berlin gefahren. Nastja Branowitz hebt die große Hilfe hervor, die die Kinder hier gefunden haben. „Ohne das Neue Forum und die Westberliner von der Initiative Mütter und Väter hätten wir den Kindern diese Ferienwochen nie finanzieren können.“ Es seien sehr viele Spenden gekommen, Kleidung, Spielzeug, Geld. Dadurch konnten die Kinder für 40 Mark in West-Berlin einkaufen gehen, ganz nach ihrem Geschmack. Die Jungs hätten vor allem Kassettenrekorder und Fernlenkautos gekauft, die Mädchen Kosmetika und Schmuck, berichtet Stefan Schmidt von der Initiative „Mütter und Väter...“.

Nastja Branowitz fragt die drei Mädchen, ob sie nun wieder nach Hause möchten? Heftiges Nicken. Unter den Mitgliedern von „Mütter und Väter gegen atomare Bedrohung“ gab es zur Rückkehr der Kinder in die verstrahlte Zone Diskussionen. „Aber wir sind davon abgekommen“, erzählt Stefan Schmidt. „Es wäre Erpressung der Eltern. Wir können uns nicht mit ihnen in Verbindung setzen, da sie keine Telefone haben.“ Christiane Neumann von der Familiensenatsverwaltung ergänzt: „Außerdem möchten die Kinder zurück. Sie haben einfach Heimweh. Das Problem kann man nur komplex betrachten. Mir wär's am liebsten, alle zwei Millionen Menschen, die dort leben, könnten weg. Aber das ist innerhalb der Sowjetunion ein kaum lösbares Problem.“

Susanne Steffen

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