: Rückzug in Madame Meyers Garten
■ Surreale Kriegsszenen inmitten des allgemeinen Schreckens von Monrovia / Eine Totaloffensive der „National Patriotic Front„-Guerilla „bis zum Präsidentenpalast“ endet nach 45 Minuten / Die NPF-Rebellen sind teilweise Amateursoldaten / „Zum Glück fressen meine Hunde Kokosnüsse“
Aus Monrovia Knut Petersen
Nicht weit vom Sender „Voice of America“ führt eine kleine Straße zum Hafen von Monrovia. Wenigstens heute ist der Himmel über den Hügeln seine dicken Regenzeitwolken los. Unter den Bäumen schlagen sich Männer die Bäuche voll, Frauen bereiten aus Kräutern die Soße für den täglichen Reis. Kämpfe? „Gestern abend ist ein Auto vorbeigekommen“, meinen zwei Rebellen an der letzten Straßensperre. „Aber es ist immer noch nicht zurück... Das ist da nicht sehr sicher, wissen Sie.“
Und jene „Totaloffensive“, um den Hafen zu besetzen und so der westafrikanischen Interventionstruppe die Landungsmöglichkeit zu nehmen? Die beiden Rebellen tauschen zweifelnde Blicke. Offensichtlich ist die großmäulige Propaganda von Charles Taylor, dem Chef der wichtigsten Rebellenbewegung „National Patriotic Front“ in Liberia, in diesem verlassenen Winkel nicht angekommen.
Dabei wäre es gerade hier, an der „Westfront“ Monrovias nötig gewesen, Terrain zu gewinnen, um die etwa 3.000 Soldaten aus Nigeria, Ghana, Gambia und Sierra Leone am Landen zu hindern. Charles Taylor hatte geschworen, daß er das „Mutterland bis zum letzten Blutstropfen gegen jeden Eindringling“ verteidigen würde. Nur sind die Kämpfer der „National Patriotic Front“ (NPF) darüber nicht auf dem laufenden. „Wenn die auf mich schießen, knall‘ ich zurück. Sonst halt ich mich raus. Vielleicht sind die ganz nett...“, erläutert einer der Partisanen an der Kreuzung von Pynesville seine Taktik.
Am Freitag wurde an der „Ostfront“ zum Angriff geblasen, im Stadtviertel Sinkor, ungefähr drei Kilometer von der Residenz des Präsidenten entfernt. Um das Eintreffen der westafrikanischen Friedenskräfte zu begrüßen, die das Einhalten der Waffenruhe im Gebiet sichern sollen, haben die Männer von Charles Taylor groß zugelangt. Von neun Uhr morgens an bekam man an der Frontlinie ein Luftabwehrgeschütz, einen Mörser, eine 106mm-Kanone und eine Kolonne von ungefähr 150 tonbeschmierten Kombattanten zu sehen. Tagesbefehl: „Bis zum Präsidentenpalast.“
Zwei Mörserschüsse, aufs Geratewohl abgefeuert, um sich in Stimmung zu bringen. Dann geht's los. Erst hurtigen Schrittes, dann etwas langsamer. Man duckt sich, lauert nach allen Seiten. „Arschloch! Wenn Du mir in den Rücken schießt, f... ich Deine Mutter“, faucht der „Kommandant“ einen Mann an, der ungeschickt mit seinem Gewehr herumhantiert. Die Nervosität steigt um einen Grad an. Die ersten Schüsse auf einen vollständig unsichtbaren Feind. Die Antwort läßt nicht lange auf sich warten. Ein Sperrfeuer vom Flughafen Spriggs Payne, im Stadtinneren, überzeugt die Rebellen, ein „Umgehungsmanöver“ auszuführen. Sie gehen links die Straße hinauf. Von der Kolonne sind nur noch etwa dreißig Mann zu sehen.
„Feuer eine Rakete los“, befiehlt der „Kommandant“ der Gruppe. „Wohin?“ fragt der unglückliche Träger des Raketenwerfers. Eine vage Handbewegung weist auf die andere Straßenseite. Der Schuß hat mehr psychologische Wirkung. Als hätte der ohrenbetäubende Lärm den Feind verjagt, stehen die Rebellen auf. „Weiter geht's, und daß keiner zurück bleibt“, brüllt der „Kommandant“. Er hat seinen Satz noch nicht beendet, da bricht ein Kugelregen auf die Patrouille herein. Dann löst das wiederholte Echo eines Mörsers Panik aus. Mehrere Schüsse explodieren nicht weit von der Gruppe entfernt. Die Kombattanten verstecken sich hinter Mauerresten oder schlicht hinter den eigenen, über den Kopf gefalteten Händen. „Könnten Sie das mal halten? Es stört mich“, flüstert ein Rebelle und reicht eine Heckenschere herüber. Ob er zu denen gehört, die den Toten die Finger abschneiden, um die Ringe einzustecken?
Als es wieder ruhiger wird, geht der „Kommandant“ mit etwa zehn Männern weiter. Sofort setzen die Schüsse ein. Explosivgeschosse pfeifen durch die Luft, zerbersten in tausend Stücke. „Wir ziehen ab“, entscheidet der Chef. Eine Dreiviertelstunde nach Beginn der gloriosen Offensive „bis zum Präsidentenpalast“ ist die Attacke zu Ende. Das Sperrfeuer aus Richtung Flughafen, wo sich die Regierungssoldaten eingerichtet haben, geht weiter. Der Rückzug erfolgt ungeordnet: Rette sich wer kann. Um die Hauptstraße mit ihren maschinengewehrbeladenen Pickups zu vermeiden, rennen einige Rebellen zum Strand. Ein kleines Haus zu ihrer Linken lassen sie unbemerkt liegen. Ein Haus mit Zaun und Vorhängeschloß, und durch ein lächerliches Schild gesichert: „Achtung, bissiger Hund!“
Das Haus wird von einer Französin bewohnt. „Haben Sie mich erschreckt“, sagt vorwurfsvoll Lina Meyer, als sie unter tausend Vorsichtsmaßnahmen die Schiebetür zur Veranda aufmacht. Dennoch ist die Elsässerin, Anfang fünfzig, „froh, wieder Leute zu sehen“. Seit zwei Wochen hat sie sich in ihrem Zimmer im zweiten Stock eingeschlossen. „Mit meinen beiden Hunden, um Gesellschaft zu haben. Zum Glück fressen sie Kokosnüsse. Uns bleibt ja nur noch das...“ Aber warum bleibt sie hier ganz alleine, unter den Kugeln eines Krieges, der sie nichts angeht? „Wohin soll ich denn gehen?“, antwortet sie. „Seit 27 Jahren lebe ich hier und weiß, wie man mit den Leuten umgeht.“ Ihre Heimatstadt Straßburg verließ sie als junge Frau zusammen mit einem Libanesen, den sie niemals geheiratet hat: „In meiner Familie heiratet man keinen Araber.“ Als Doe 1980 an die Macht kam, eröffnete sie ein Blumengeschäft in der monrovianischen Innenstadt: „Gloxinia Flowers“. 1987 mußte sie wegen der Wirtschaftskrise aufgeben. „Dank des Botschafters bekomme ich eine kleine Pension von der französischen Regierung. Sonst wäre ich längst verhungert.“ Ende Juni hat Lina Meyer ein letztes Ausreiseangebot der Botschaft abgelehnt. „Ich hoffe, das war nicht mein Todesurteil“, sagt sie ein wenig kokett. Nichts kann sie von ihr vertreiben.
Sie zieht die Vorhänge auf. Im Garten ziehen sich einige Rebellen zurück.
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