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„Sofort alle Kinder aus dem Gebiet evakuieren“

■ Irina Gruschewaja, Germanistik-Dozentin in Minsk und Mitbegründerin des Bürgerkomitees „Die Kinder von Tschernobyl“

INTERVIEW

taz: Einige Westberliner Gasteltern haben in der letzten Woche darüber diskutiert, die Kinder gar nicht mehr in ihr verstrahltes Zuhause zurückzuschicken. Kennen Sie den Hintergrund?

Irina Gruschewaja: Mit den Eltern habe ich nicht direkt über diese Frage gesprochen. Aber ich kann ihre Bedenken nachempfinden und weiß, daß sie die Gefahr, die bei uns herrscht, ganz richtig einschätzen und verstehen. Ich habe den Eindruck, daß man die tödliche Gefahr der Radioaktivität hier viel besser begreift als bei uns. Die akute Bedrohung spüren wir nicht unmittelbar. Wenn Bomben einschlagen, dann weiß gleich jeder Bescheid: Die Menschen laufen weg und versuchen sich zu retten. Unsere Radioaktivität ist genauso gefährlich. Im Westen gibt es darüber einfach mehr Informationen.

In der Tat war der Auslöser für Überlegungen, die Kinder aus Tschernobyl hierzubehalten, die neue Nachricht, daß der Betonmantel nicht mehr dichthält. Ist das bei Ihnen bekannt?

Ich selber bin ja seit einiger Zeit von zu Hause weg. Aber mein Mann ist am Montag vor einer Woche in Minsk angekommen und brachte diese Nachricht schon aus dem Westen mit. Ich habe mit ihm telefoniert und er wunderte sich, daß er in unseren Medien nichts darüber gefunden hat. Dabei war es doch die internationale Energiebehörde - die wir eher an der Seite der Atomlobby streiten sehen -, die diese Ergebnisse ermittelt hat. Wenn die schon so etwas bekanntgeben, dann muß die Lage wirklich sehr ernst sein. Mein Mann ist Abgeordneter im belorussischen Obersten Sowjet. Er hat einen Artikel über die neue Untersuchung übersetzen lassen und wollte den im Obersten Sowjet vortragen, um damit gegen die Politik des Verschweigens der Gefahr zu protestieren.

Zurück zu den Überlegungen, die Kinder nicht in diese noch drastischere Gefahrensituation zurückzuschicken. Was halten Sie davon?

Erst einmal möchte ich den Gasteltern für ihre Fürsorge danken. Es war ja auch gar nicht so leicht, die Kinder so lange in Deutschland zu behalten. Es gab Sprachschwierigkeiten, vieles war für die Kinder, aber auch für die Gastgeber ungewohnt. Und trotzdem wollten sie die Kinder länger dort behalten! Dafür bin ich dankbar. Aber ich kann das natürlich nicht akzeptieren, einfach die Kinder nicht nach Hause zu schicken. Bei uns gäbe es dafür auch kein Verständnis. Wie lange sollte diese Gastrolle dauern? Und die Kinder hätten sicher Heimweh.

Was wäre denn die bessere Lösung?

Die beste Lösung wäre, daß unsere Regierung jetzt den Beschluß faßt, erst einmal alle Kinder sofort aus diesem gefährlichen Gebiet zu evakuieren. Auch bei uns in der Sowjetunion gibt es sicher sehr viele Leute, die die Kinder gerne aufnehmen würden. Aber auf die Dauer ist auch das keine Lösung des Problems. Man muß dringend die ganzen Familien, die in der Zone leben, umsiedeln. Es gibt doch Platz genug. Die nördlichen Gebiete bei uns in Belorußland selbst sind sehr dünn besiedelt. Man muß nur endlich anfangen mit einer solchen Politik. Bisher ist die Hilfspolitik bei uns einfach völlig falsch darauf ausgerichtet, die Menschen in den strahlenverseuchten Gebieten zu lassen, Erschwerniszulagen zu bezahlen, neue Wohnungen zu bauen und dergeleichen. Wir sind der Meinung, die Folgen der Katastrophe kann man nicht beseitigen, deswegen ist eine Politik, die die Menschen am Ort hält, lebensgefährdend. Mit dem Geld, Milliarden Rubel, das für die Linderung der Lage in der Zone ausgegeben wird, sollte besser ein großes Umsiedlungsprogramm finanziert werden. Wir sind gegen die Unterstützung einer Illusion der Sorglosigkeit. In erster Linie leiden daran die Kinder, die ja auf jeden Fall keine eigene Entscheidung über Bleiben oder Weggehen treffen können.

Warum haben Sie aber dann trotzdem viel Energie in das Ferien-Verschickungs-Programm für die Kinder gesteckt?

Unser Komitee „Die Kinder von Tschernobyl“ hat zusammen mit der Belorussischen Volksfront sehr erfolgreich gearbeitet. Es ist uns gelungen, fast 5.000 Kinder zur Erholung ins Ausland zu schicken. Um die Bedeutung zu verstehen, muß man vergleichen: Die Regierung hat 2.000 Kinder verschickt. Nicht zuletzt deshalb, weil wir mit unserer Aktion den Anfang gemacht haben. Unser Komitee hat keinen legalen Status. Wir haben kein Geld und keine Angestellten. Was meinen Sie, wie schwer das ist, allein die Visa für die Kinder zu beschaffen und die Reisen zu organisieren. Wenn jetzt die Kinder nicht rechtzeitig zurückkämen, würde das in unseren Massenmedien sicher zu einer Kampagne gegen unser Projekt führen. Es würde wieder heißen, wir - oder auch die besorgten Gasteltern - wären nichts als Panikmacher. Unsere Überlegung ist aber die: die Kinder werden zurückkommen und die besten Botschafter dafür sein, daß sich etwas ändern kann, daß es Menschen gibt, die unsere Sorgen teilen. Im Juni, als wir mit unserer Verschickungsaktion anfingen, wurden noch Eltern angerufen, denen richtige Horrorgeschichten erzählt wurden: Unsere Gruppe sei ein ganz obskurer Verein, die Kinder würden als Versuchskaninchen mißbraucht. Und jetzt werden eben an die 5.000 Kinder zurückkommen und ganz etwas anderes beweisen. Wir haben keine Presse, die uns direkt unterstützt. Die Kinder werden für uns sprechen. Und dann hoffen wir auch auf internationale Hilfe, vor allem von der Presse.

Interview: Georgia Tornow

Morgen: taz-Interview über die Situation in der verstrahlten Zone mit zwei Mitgliedern des Komitees „Die Kinder von Tschernobyl“.

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